Sabihas Lied
der Natur der Gabe. Genau das ist gemeint, wenn es heiÃt, jemand sei begabt. Er bekommt Vorgaben und lässt sich darauf ein. Das passiert nicht jedem, und nicht jeder, der Vorgaben bekommt, lässt sich darauf ein. Das Abenteuer kann durchaus anstrengend werden. Doch anders, als viele glauben, ist Schreiben keine einsame Angelegenheit. Es handelt sich immer um ein Zwiegespräch.
Plötzlich wird man von einer Geschichte ergriffen, bringt sie etwas in einem zum Klingen, und dann wacht man mitten in der Nacht davon auf. Diese Phase hatte ich mit Johns Geschichte nicht erreicht, noch nicht. Vielleicht würde ich sie nie erreichen. Aber die Geschichte schwebte im Raum. Sie hatte Potenzial. Das war mir schon öfter widerfahren. Vielleicht hoffte ich diesmal sogar inständig darauf, dass es mir widerfuhr, damit ich aus dem Ruhestand treten konnte und nicht mehr wie ein Gespenst im Haus umherirrte, damit die Tage wieder von meiner Arbeit erfüllt waren, meine Begabung wieder zum Tragen kam. Schreiben und erzählen sind zwei sehr unterschiedliche Dinge. Mein Vater war ein groÃartiger Erzähler, der in seinem ganzen Leben kein einziges Wort zu Papier brachte. Der Schriftsteller setzt sich gefährlichen Strömungen aus und nimmt dabei häufig Schaden, wenn er im Meer der Erzählung , wie Christina Stead es nannte, die Orientierung verliert. Das kommt ständig vor. Wir versinken in diesem Meer. Wir gehen darin unter. Vertraute Stimmen verstummen für immer. Das sind die Geisterschiffe der schreibenden Zunft. Man weià nie, ob und wann es einen ereilen kann. Der Untergang ist so rätselhaft wie verwirrend. Der Erzähler hingegen verharrt stets im vertrauten Fluss und kommt sicher ans Ufer.
»Komm«, sagte ich zu Stubby, als ich vom Tisch aufstand. »Lass uns eine Runde drehen und der schönen Sabiha ein paar Leckereien abkaufen.«
»Ist sie denn mittlerweile gesprächiger?«
»Sabiha und ich haben eine stillschweigende Ãbereinkunft.«
Clare lachte. »Meinst du vielleicht, Dad. Bring doch ein paar dieser GrieÃplätzchen mit Mandeln mit.«
»Ich dachte eher an die frittierten Honigkugeln«, sagte ich.
»Davon auch ein paar.«
Clare und ich sahen uns an.
»Was meinst du mit Ãbereinkunft?«, fragte sie, auf einmal ernst geworden.
E s war Dienstag, kurz vor Morgenanbruch, dünnes kaltes Licht säumte die Vorhänge. Sie lag hellwach neben John, wartete auf den Sonnenaufgang und fragte sich, ob Bruno wie üblich das Bestellte abliefern und zum Mittagessen bleiben oder das Chez Dom meiden würde. Sie hatte ihn seit Freitag nicht mehr gesehen, und ihr graute vor der nächsten Begegnung. Andererseits wollte sie ihn treffen. Aber nicht in der realen Welt, sondern an einem Traumort, wo sie und Bruno niemandem Rechenschaft schuldig wären. Doch wo sollte das sein? Falls Bruno sich heute tatsächlich im Speiseraum an seinen Stammplatz setzte und wie immer gegen Nejib und dessen grimmigen Gefährten stichelte ⦠Daran wollte sie gar nicht denken. Und wenn er mit einer Kiste Grosse Lisse in die Küche käme, wie sollte sie ihm da in die Augen sehen?
Sabiha konnte keinen klaren Gedanken fassen. Hoffentlich würde es Bruno vor lauter Scham nicht wagen, hier aufzutauchen. Vielleicht schämte er sich ja so sehr für das, was sie getan hatten, dass er sich nie wieder blicken lassen würde. Und sie wäre die Einzige, die den Grund dafür wüsste. Ob sie und John von nun an in Frieden weiterleben könnten, zusammen mit dem Kind? Ohne dass das Kind und er irgendwann Verdacht schöpften? Wie in diesen Romanen, die John immerzu verschlang. Aber sie konnte sich das Bild des knienden, weinenden Brunos nicht aus dem Kopf schlagen. Das verhieà ganz gewiss nichts Gutes. Dass so ein groÃer, kräftiger Kerl auf die Knie sank. Dieses Bild lieà sie einfach nicht los. Sie kam nicht zur Besinnung. Seit Freitag war sie auÃer sich, erkannte sich nicht wieder, suchte verzweifelt nach etwas, das ihr Halt bieten konnte.
John schnappte nach Luft und gab ein kehliges Geräusch von sich. Sie drehte den Kopf, um ihn im fahlen Licht zu betrachten. Wie sie sein Profil liebte, seine schöne markante Nase, beides war so tröstlich und vertraut. John war ihr Mann. Als sie damals in Chartres eng umschlungen am Flussufer lagen, hatte er ihr zugeflüstert: Du und ich, Liebling, sind wie die Flügel beim
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