Sabihas Lied
Schriftsteller.«
»Aber er hat dir doch von den beiden erzählt.«
»John schreibt nicht«, sagte ich.
»Woher willst du das wissen?«
»Ich weià es eben. Schriftsteller erkennen einander auf Anhieb.«
»Wie Katzen, meinst du?« Sie lachte und warf mir einen vielsagenden Blick zu.
Ich bat sie, mir das letzte Plätzchen zu reichen, wenn sie es nicht selbst essen wollte.
»Ich gebe dir die Hälfte«, sagte sie und brach das Plätzchen in zwei ungleiche Teile. Sie gab mir das kleinere.
»Genau, wie Katzen. Du siehst todschick aus, mein Schatz. Mir gefällt dein Outfit. Steht dir gut.« Ich verfütterte meinen Plätzchenanteil an Stubby. Mit seinen schönen, lieben Augen schaute er dankbar zu mir auf.
»Danke, Dad.«
Etwas macht mir Angst. Etwas, das jedem Vater Angst machen würde. Es liegt auf der Hand. Es ist die Vorstellung, wie Clare nach meinem Tod am Samstagmorgen mit ihrer Zeitung dasitzt und Stubby oder seinem Nachfolger Neuigkeitenhäppchen vorliest. Wie sie im Haus ihres Vaters zur einsamen alten Dame wird. Wenn das eintritt, werde ich Maries Vertrauen enttäuscht, werde ich das Abkommen gebrochen haben, das sie und ich zum Wohl unserer geliebten Tochter getroffen hatten. Wie könnte ich so etwas tun? Wie könnte ich unser kleines Mädchen ganz allein zurücklassen? Ich wollte sie fragen, ob sie jemanden kennengelernt hatte, traute mich aber nicht. In letzter Zeit sieht sie besonders attraktiv aus. Es bringt sie auf die Palme, wenn ich sie darauf anspreche. Ich sah zu, wie sie die Zeitung auf dem Tisch ausbreitete. Es stimmt. Sie ist immer noch mein kleines Mädchen. Mein Kind . Meine Tochter. Ich schulde ihr alles, und sie schuldet mir gar nichts. So sehe ich das. So habe ich das schon immer gesehen. Wenn man ein Kind zur Welt bringt, schuldet man ihm alles. Mich plagt die Angst, dass ich sie auf die eine oder andere Weise im Stich gelassen habe und sie deswegen allein zurückbleiben wird.
Ich denke an einen Freund. Er ist mein ältester Freund. Seit über vierzig Jahren lebt er allein. Er macht das Beste daraus. Keiner kommt besser ohne Partner zurecht. Er verbringt viel Zeit damit, sein gesellschaftliches Leben so zu planen, dass er möglichst selten allein zu Abend essen muss und sich den ganzen Tag darauf freuen kann, abends einen Freund zu treffen. Auch nach vierzig Jahren ist ihm die Aussicht ein Gräuel, abends für sich kochen und dann allein essen zu müssen, wie eine Figur aus einem Roman von Anita Brookner. Wer kann sich schon damit abfinden? Dass der Tag zu Ende geht und man mit keiner Menschenseele lachen oder diskutieren kann, dass man sich dabei ertappt, die Zuhörerbeiträge im Radio laut zu kommentieren, während man sich zwei Eier brät. Das macht doch keinen SpaÃ. Was meinen Freund mit Schrecken erfüllt, ist Alternativlosigkeit. Wir treffen uns alle paar Monate zum Abendessen. Er ist der Einzige, der mich so regelmäÃig aus dem Haus lockt. Er besteht darauf. Wenn ich ihn nicht anrufe, ruft er mich an. »Du hast leicht reden, du hast ja Familie«, sagt er immer. Ich widerspreche ihm nicht. Es stimmt, ich habe eine Tochter. Ich habe Glück. Aber für Clare ist es nicht gut, dass sie mit achtunddreiÃig bei ihrem Vater wohnt. Sie soll sich hier heimisch fühlen, in meinem Haus, im Haus ihrer Eltern â dem Haus, in dem sie aufgewachsen ist und das sie später erben wird â, aber ich will sie auf keinen Fall darin bestärken, auf Dauer hierzubleiben. Das würde ich mir nie verzeihen: meine Tochter dazu zu bringen, dass sie mir auf meine alten Tage Gesellschaft leistet. Auch wenn es ganz unabsichtlich geschieht.
Ich sah zu, wie sie die Zeitung wieder zusammenlegte. So langsam und sorgfältig, wie sie bei allem vorgeht. Mit fünf streckte sie vor lauter Konzentration oft die Zunge heraus. Ich wünsche ihr, dass sie jemanden kennenlernt und sich einen eigenen Platz zum Leben sucht. Vielleicht sogar eine Familie gründet. Ist das zu viel verlangt? Ist es dafür zu spät? Es geht mir gar nicht so sehr um die Freude, GroÃvater zu werden, als vielmehr darum, dass Clare ein eigenes Leben führt. Dass sie mit einem Mann an ihrer Seite glücklich wird, bevor es zu spät ist.
»Früher oder später verlangen sie das immer von dir, Dad«, sagte sie. »Sobald sie wissen, wer du bist. Dann wollen sie eine Gratis-Einschätzung des
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