Sabihas Lied
Deiner Frau liebe GrüÃe aus.
John faltete den Brief wieder zusammen und steckte ihn in den Umschlag zurück.
Die ganzen Sommerferien über war er mit seinem Kumpel Gibbo, Kathy und ihren Freunden im Chinamanâs geschwommen. Er sah die Kasuarinen vor sich, die sie am Ufer vom Haus abschirmten, und den Strand aus glatten Flusskieseln. Wie sie bis Mitternacht dort herumtollten. Loretta, die ihm erlaubte, im Mondlicht die Innenseite ihrer Schenkel mit den Fingern zu erkunden, ihre Haut war so kühl und feucht und herrlich zart. Die zarteste Haut, die er jemals berührt hatte. Er konnte Chinamanâs förmlich riechen, den säuerlichen Geruch fauliger Blätter, den das strudelnde Wasser auf ihrer Haut hinterlieÃ. Unvorstellbar, dass die Bucht jetzt ausgetrocknet war. Wo waren dann die grünen Wasseragamen und schwarzen Aale geblieben? Er empfand eine tiefe Trauer darüber, dass seine alte Heimat nicht mehr so war wie in seiner Kindheit, und er sehnte sich danach, sie wiederzuentdecken, den Fluss und das Buschland zu riechen und die Freunde von früher unverändert vorzufinden, die ihn auslachten, weil er so schüchtern war, und lautstark nach ihm riefen. Er fragte sich, was aus Gibbo und Loretta und all den anderen geworden war. Irgendwo mussten sie ja stecken.
Als er die Rechnungen alle durchgesehen hatte, ging er in die Küche und fing an zu putzen. Alles sollte blitzsauber sein, wenn sie nach Hause kam.
A ls Sabiha die Küche von der Hintergasse aus betrat, schallte ihr Johns Musik in ohrenbetäubender Lautstärke entgegen. Er begrüÃte sie mit einem Kuss auf die Wange und musste brüllen, um Carole Kings Gesang zu übertönen: »Du hast also unseren Freund Bruno getroffen!«
Sie wich zurück und fuhr sich mit den Fingern über die Wange, als hätte er ihr eine Ohrfeige versetzt.
»Tut mir leid!« Er hob die Arme, wie um seine Unschuld zu beteuern. »Du riechst nach Tomaten, mein Schatz.«
Sie schaltete die Musik aus und verstaute ihre leere Einkaufstasche hinter dem Herd. Dann zog sie den Mantel aus und hängte ihn in die Nische neben der Treppe. Sie zitterte. In der Gasse bellte Tolstoi, als hätte er ihre Angst gespürt.
John lieà sie nicht aus den Augen.
Sie konnte seinem Blick nur mit Mühe standhalten. Um eine richtige Antwort verlegen, murmelte sie: »Bruno ist nicht der einzige Tomatenhändler, den wir kennen.«
Darüber musste er lächeln. »Schon gut, Liebling. Es war doch nur ein Scherz.« Er bemühte sich um einen möglichst heiteren Ton, weil sie so düster und niedergeschlagen wirkte. »Und Bruno ist schlieÃlich immer noch unser Tomatenmann. Wo sind denn die Einkäufe?« Er fegte weiter den Küchenboden und beugte sich vor, um den Besen unter den Herd zu schieben. »AuÃerdem mag ich diesen Geruch.«
Was Sabiha verspürte, war keine Scham. In der Früh hatte sie noch mit gesenktem Kopf in der Métro gesessen, mit einem Gefühl drohenden Verderbens, und nichts Geringeres als die Todesstrafe für die Umsetzung ihres Vorhabens erwartet. Es war aber kein Feuerball zischend angeflogen und hatte Wände und Dach zum Einsturz gebracht. Sie lagen am Ende doch nicht unter den rauchenden Trümmern ihres Lebens. Alles war noch an seinem Platz, ruhig und friedlich â nun, da Carole King ihnen nicht mehr die Ohren vollplärrte. Ihr Alltag verlief weiterhin reibungslos. John fegte den Boden.
»Ich werde mich ein Weilchen hinlegen«, sagte sie.
John richtete sich auf und sah sie an.
Er tat ihr leid. »Ich brauche nur ein bisschen Zeit für mich.« Sie lächelte. Sie hatte ihn betrogen. Aber konnte man das wirklich Betrug nennen? Oder wäre jede Ehefrau geneigt, sie zu verurteilen? Was sie empfand, waren Schuld und Angst. Aber keine Scham. Auf diese Unterscheidung legte sie Wert. Sie würde sich zweifellos schuldig bekennen: Ja, ich habe es getan. Aber sie würde ihre Tat weder bedauern noch bereuen. Ich würde es wieder tun. Wenn es sein muss, werde ich es wieder tun. Jetzt dachte sie an ihn. Sie roch ihn an ihren Kleidern. Es war mehr als der Geruch von Tomaten, es war Brunos Geruch, der Geruch seiner Männlichkeit. Ein Wunder, dass es John nicht aufgefallen war. Als Bruno über ihre nackten Schenkel strich, hatte sie auf Anhieb eine ungeheure Lust verspürt, so durchdringend wie ein StromstoÃ. Schon bei der ersten Berührung wurde
Weitere Kostenlose Bücher