Sabihas Lied
sie von einem köstlichen Schwindel erfasst, der ihr beinah die Besinnung raubte. Wieder schloss sie die Augen und wandte sich von dem fragenden Blick ihres Ehemanns ab.
John stützte sich auf den Besen wie ein Ruderer, der mit seinem Staken die Tiefe ausloten wollte. Er kam an Sabiha nicht heran.
»Du solltest dich wirklich ausruhen«, sagte er.
Als sie kurz zuvor durch die Tür gekommen war, strahlten ihre dunklen Augen, schien sie in Hochstimmung zu sein. Das hatte sofort seine Aufmerksamkeit erregt, dieses Lodern, als hätte sie etwas AuÃergewöhnliches erlebt. Der Eindruck hatte sich rasch wieder verflüchtigt â konnte es ein letztes Aufflackern ihrer Jugend gewesen sein? Sabiha wirkte auf ihn schöner und trauriger denn je. Aber im selben Moment war sie ihm fremd. Sie war so verschlossen und einsam. John dachte an das Mädchen zurück, das er am Ufer der Eure im Arm gehalten hatte, an jenem Sommertag in Chartres, und konnte gar nicht fassen, wie sehr sie sich seitdem verändert hatte.
»Ich brauche nur ein bisschen Zeit für mich«, wiederholte sie und verlieà die Küche.
Er hörte, wie sie die Stufen hinaufging, lauschte auf das Knarren der Dielen, als sie über ihm das Schlafzimmer durchquerte, stellte sich vor, wie sie am Bettrand saÃ, den Kopf in den Händen vergraben. Ob hinter dieser Trauer, diesem Wandel eine Ahnung von der Kürze des Lebens steckte? Erst altert man, dann kommt der Tod. Wie vergeblich alles schien. Die Lieder, die Sabiha samstagabends sang, handelten im Grunde von nichts anderem als von Sehnsucht und Endlichkeit. Er hatte Männer weinen sehen, als sie sang, sie weinten, weil ihnen ihr Exil und ihre Sterblichkeit bewusst wurden. Mehr als einmal hatte er erlebt, wie eine Träne über Nejibs braune Wange glitt, während er die Saiten seines kostbaren Ouds zum Klingen brachte, um ihre wehmütigen Lieder zu begleiten.
John lauschte immer noch auf ihre Schritte, aber die Dielen hatten nicht geknarrt. Vermutlich saà sie am Frisiertisch und betrachtete sich im Spiegel, während sie ihr Haar löste. Sabiha, seine schöne Frau. Wie fremd sie einander tatsächlich waren. Wie fremd ihnen die Sprache des anderen jeweils war. Die Kindheit. Die Familie. Seine Liebe konnte da nichts ausrichten.
Er fegte die Küche zu Ende, drückte den Besen hochkant in die breiten Ritzen zwischen den alten Kacheln und schob den ganzen Dreck zur Küchentür hinaus in die Hintergasse, wo er ihn durch den Gully stieÃ. Mehrmals fuhr er mit der Bürste über dem Gitter hin und her, bis sich das letzte Stäubchen gelöst hatte. Es begann zu regnen, das kalte graue Licht lieà die Pflastersteine schwarz aussehen. John blieb noch eine Weile in der offenen Tür stehen, um den Regengeruch einzuatmen, der ihn an früher erinnerte, wenn im Sommer die ersten Tropfen auf das trockene Eukalyptuslaub fielen und die herrlichen Aromen, die während der Dürrezeit dort gespeichert blieben, in der feuchten Luft freigesetzt wurden. In den ersten Regenminuten entstand so ein schwerer, berauschender Duft. Wie gern er diesen Duft wieder riechen würde. Er verkörperte alles, was ihm einst Hoffnung auf ein erfülltes Leben gemacht hatte. Damals tanzten er und sein Vater übermütig im Regen und sangen lauthals: Der Re-gen bringt Se-gen auf allen We-gen ⦠Sein Vater sagte: Es regnet Geld . Und dann sprangen sie alle ins Auto und fuhren nach Moruya, um einzukaufen und danach ins Kino zu gehen. So hatte das Glück gerochen, wie ein Sommerregen.
*
Sabiha lag auf dem Rücken, in die blaue Wolldecke gehüllt. Inzwischen hatte sie sich beruhigt, gewiegt von den vertrauten StraÃengeräuschen, vom leisen Prasseln des Regens gegen die Fensterscheibe. Sie bereute keineswegs, was sie getan hatte. Sie war froh, dafür den Mut aufgebracht zu haben. Aber sie hatte sich verwandelt. Sie hatte sich in jene Frau verwandelt, die nachts allein in die Wüste gegangen war, über ihr nur der Sternenhimmel, und den Löwen getötet hatte.
Sie würde bald Mutter werden.
Sie würde ihr Kind in den Armen halten. Das Baby würde zu ihr aufschauen, hier auf diesem Bett. Es würde schlafen und weinen und an ihrer Brust ruhen. Der kleine Leib würde warm sein und zart, weich wie eine Wolke, und nur darauf warten, von ihr liebkost zu werden. Sabiha steckte die Hand unter die Decke und legte sie um die Binde, sie dachte
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