Sabihas Lied
in den Wind schlug. Am Ende entpuppte sich alles als wertlos. Fass mich nicht an, John! Ohne sie, ohne die sechzehn Jahre ihres Zusammenlebens wäre er tatsächlich ein Nichts. Hätte er in seinem Leben nichts zustande gebracht.
Während er ein weiteres Mal aus dem Fenster schaute und den jungen Mann im hell erleuchteten Eckladen sah, dachte John, dass Sabihas Wechseljahre sie beide womöglich vernichten würden. Die Wahrheit würde ans Licht kommen und ihnen ihre Nichtswürdigkeit enthüllen.
Er ging wieder zum Bett und setzte sich neben Sabiha. Behutsam legte er ihr seine Hand auf die Wange. Sie fuhr zusammen. »Ich liebe dich«, sagte er. Hatte seine Stimme gerade ängstlich geklungen?
Sie trank einen Schluck Kaffee und atmete tief ein. Ihr Versuch, ihn anzulächeln, scheiterte kläglich. »Ich weià auch nicht, was mit mir los ist«, sagte sie. »Wenn ich es wüsste, würde ich es dir sagen.« Nun hatte sie ihm auch noch ins Gesicht gelogen. Konnte sie ihm denn gar nichts ersparen?
Sie sahen sich wortlos an.
Für einen flüchtigen Augenblick wäre es John und Sabiha möglich gewesen, sich gegenseitig um den Hals zu fallen und um Verzeihung zu bitten. Es wäre ihr möglich gewesen, ihm alles zu erzählen, und es wäre ihm möglich gewesen, sie zu verstehen und ihr zu verzeihen. Doch der Augenblick verflog, bevor sie ihn ergreifen konnten, wie der Schatten einer Wolke, die über ein Weizenfeld hinwegeilt.
»Du solltest jetzt los«, sagte Sabiha. Sie legte ihre Hand auf seine. »Sonst wird es zu spät.«
Als er aus ihrem Blickfeld verschwunden war, dachte sie, dass sie lieber sterben wollte als eine unfruchtbare Ehefrau zu sein. Der Gedanke an den eigenen Tod beruhigte sie. Er war immer gegenwärtig. Er wartete auf sie und könnte jederzeit erfolgen, wenn sie bereit wäre. Bereit wie ihr Vater, der seinen nahenden Tod akzeptiert hatte, ruhig, würdevoll und sogar heiter. War der Wunsch zu sterben etwa weniger berechtigt als der Wunsch zu leben? Wer wollte sich anmaÃen, einem anderen den Tod zu versagen? Der Tod ist so heilig wie das Leben, dachte sie. Man sollte ihm mit Ehrfurcht begegnen und ihn freudig willkommen heiÃen. Das, was man zuletzt akzeptierte, im Stillen, ganz für sich.
Sabiha schlief wieder ein und träumte von ihrer Heimat, vom Wind, der die Stromkabel vor dem Hof zum Klingen brachte, von den Umrissen des alten Amphitheaters, die im Staub dunkel aufragten wie ein Trugbild. Vom Haus ihres Vaters.
E s war Samstagabend, und die Männer waren gerade mit dem Essen fertig geworden. John eilte von Tisch zu Tisch, räumte das Geschirr ab, servierte Wein und süÃen Minztee und bemühte sich, auf die Scherze seiner Gäste einzugehen. Im Speiseraum breiteten sich Gesprächslärm und Zigarettenrauch aus. In der Küche nahm Sabiha ihre Schürze ab, hängte sie an den Haken und ging nach oben. Im Schlafzimmer zog sie Bluse und Hose aus. Nur mit ihrer Unterwäsche bekleidet, setzte sie sich vor den Spiegel und sah sich forschend an. Statt der Deckenbeleuchtung hatte sie die kleine chinesische Lampe angemacht, die links auf Hourias altem Frisiertisch stand. Der Lampenfuà war aus grüner Bronze gearbeitet, in der Form einer Bambusstaude, und der Schirm bestand aus einer Fülle bernsteinfarbener Glassplitter. Das weiche Licht modellierte Sabihas markante Gesichtszüge, machte sie zu einer geheimnisvollen Schönheit, die sie selbst nicht wiedererkannte.
Gebannt betrachtete Sabiha ihr Ebenbild. Die attraktive Frau im Spiegel mochte im Leben so einiges vollbracht haben, aber das Einzige, was für sie von Bedeutung war, hatte sie nicht erreicht. »Warum?«, fragte sie den Spiegel. »Warum wird meinem Kind die Liebe seiner Mutter vorenthalten?«
Sie sah die kleine Lampe an. Vor über zehn Jahren hatte Sabiha sie im Schaufenster eines Antiquitätenladens bewundert, als sie eines Sonntags mit John am Ufer der Seine spazieren gegangen war. Sie waren Arm in Arm vor der Auslage stehengeblieben, und sie hatte zu ihm gesagt: »Wie schön diese Lampe ist.« Ohne ihr Wissen war er unter der Woche zum Laden zurückgekehrt und hatte eine Anzahlung geleistet. Und dann zahlte er sie Monat für Monat ab, bis Sabiha eines Tages â fast ein Jahr nachdem sie die inzwischen vergessene Lampe im Schaufenster bewundert hatte â vom Einkaufen nach Hause kam und sie auf dem
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