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Sabihas Lied

Sabihas Lied

Titel: Sabihas Lied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Miller
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Frisiertisch vorfand, ihr märchenhaft schöner Schirm erstrahlte im bernsteinfarbenen Licht. Fortan setzte sie sich Samstagabend nach dem Essen oft an den Frisiertisch und betrachtete ihre Lampe, ließ den Tag, den sie in der Küche verbracht hatte, ausklingen und bereitete sich innerlich auf die alten Lieder vor.
    Sie betrachtete sich erneut. Die Frau, die sie so gut kannte. Die Frau, die sie so gar nicht kannte. Die Fremde im Spiegel. Dieses rätselhafte Wesen. Die anständige Frau. Die kinderlose Frau. Die getreue Ehefrau. Die liebende Ehefrau. Die verlorene Frau. Die besiegte Frau. Die Ehebrecherin.
    Lange verharrte sie in der Stille ihres Schlafzimmers vor dem Spiegel, ließ die Hände auf ihren nackten Oberschenkeln ruhen und musterte ihre schönen strengen Züge. Die Stimmen der Männer, die vom Speiseraum nach oben drangen, waren wie aus einer anderen Welt, Johns Klappern in der Küche, die Rufe nach Wein, Kaffee oder Minztee, waren weit weg, unwirklich.
    Erst als Nejibs Oud in ihren Ohren erklang – die zarte Melodie einer vertrauten Weise, zunächst verhalten, eine leise Stimme, die den Abend sanft beginnen ließ, von Melancholie getragen und zugleich voller Verheißung, Träume und Er innerung, der überzeitliche Klang von Sehnsucht und Hoffnung –, erst als sie hörte, wie Nejibs Finger über die Saiten seines wunderbaren Instruments strichen, wurde sie sich der Macht der alten Lieder wieder bewusst. Die Musik von Nejibs antikem Oud und die Liedtexte waren für Sabiha wie ein Rettungsanker.
    Eine Träne lief ihr über die Wange, und sie wischte sie rasch weg.
    Sabiha zog die Haarnadeln aus ihrem Knoten und ließ sie einzeln in die kleine grüne Schale fallen, die früher ihrer Mutter gehört hatte. Das Einzige, was sie von zu Hause mitgenommen hatte. Nejib spielte nun weniger verhalten, und sie hielt beim Bürsten ab und zu inne, um ihm zu lauschen. Sie dachte an ihren Vater und fragte sich, wie lange er wohl auf sie und das Kind warten würde. Das Kind war noch da. Vielleicht nicht in ihrem Leib, aber in ihrem Geist. Das Kind hatte Bestand. Es war das letzte Zeichen von Unschuld, das ihr geblieben war.
    *
    Als Sabiha durch den Perlenvorhang in den Speiseraum trat, verstummten die Männer und starrten sie an. Alle außer Nejib. Er beugte sich noch tiefer über sein geliebtes Instrument und zupfte die Saiten so zärtlich, als würde er die Wangen seines schlafenden Sohnes streicheln.
    Ohne die Männer anzusehen, ging Sabiha zur Eingangstür und blickte auf die leere Straße hinaus. Sie trug ein knöchellanges Kleid aus schwerem rostbraunem Wollgewebe, mit blauen und goldenen Metallfäden durchwirkt und mit einem hohen Kragen aus schwarzer Seide versehen. Die Haare hatte sie geflochten und eingerollt. Draußen regnete es. Sie sah ein Auto vorbeifahren, an der Ecke bog es rechts ab und verschwand. Ein zweites Auto folgte, dessen Scheinwerfer die dunklen Ladenfenster erhellte, dann war die Straße wieder verwaist. Nur einer der beiden Kavi-Brüder war noch da, lehnte an seinem Verkaufstresen, rauchte eine Zigarette und las Zeitung. Das weiße Ladenlicht wurde von der nassen Straße reflektiert wie ein Blatt aus durchscheinendem Eis. Über seinem kastanienbraunen Turban strahlte das blaue Fernsehlicht. Er hatte ihr mal erzählt, dass sein Name Dichter bedeutete.
    Sabiha drehte sich um und begann zu singen.
    Da hob Nejib den Kopf. Ihre Blicke trafen sich. Sie lächelte. Er senkte wieder den Kopf, die Saiten verstummten. In der Stille, die Nejib für sie geschaffen hatte, sang sie für ihn ein Lied. Das Lied einer Frau, die ihr trautes Heim und ihre Kinder pries. Es galt ihm, seinem Heimweh, der Erinnerung an seine Frau und der Sehnsucht nach seinen Kindern, die ohne ihn aufwuchsen. Seinen Träumen. Danach spielte er wieder, zunächst so leise, dass man meinte, die Saiten nur im Kopf vibrieren zu hören. Ich werde zurückkehren , hatte er Sabiha eines Abends anvertraut. Wenn ich genug Geld gespart habe, um den Olivenhain und den Bauernhof meines Onkels von seiner Witwe zu kaufen, kehre ich zurück. Sabiha hatte ihn gefragt, wo der Bauernhof lag. Und er hatte seine Erinnerungen wachgerufen und ihr die Sicht vom steinigen Hügel auf dem Land seines Onkels über das Medjerda-Tal beschrieben, der Hof lag seit Urzeiten im Schatten von Ruinen und inmitten von mehrere hundert Jahre alten

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