Sabihas Lied
bedingungsloser Treue verbunden. Sie konnte sich auf seine Liebe verlassen, seine Lauterkeit, seine Bescheidenheit und Zurückhaltung, und natürlich auf seine so unerschöpfliche wie unerträgliche Geduld und Nachsicht. Nachsicht mit ihr, mit dem Leben, sogar mit dem Weinhändler. Sabiha konnte sich John gut als Lehrer vorstellen, wie er heiter-gelassen mit ungezogenen Kindern umging, wartete, bis sich alle beruhigt hatten und ihn erwartungsvoll ansahen. Bei seinen Schülern dürfte er beliebt gewesen sein. Er nahm sie ernst. Behandelte sie gut. Diesen Fremden, ihren Mann, neben sich schlafen zu sehen, stimmte sie traurig. Furchtbar traurig. Sie legte das Buch vorsichtig auf seinen Nachttisch zurück, stand auf und ging nach unten.
In der Küche öffnete sie die Hintertür und blickte auf die verlassene Gasse hinaus. Ãber den Dächern schwebte der gelbe Schein der geheimnisumwitterten GroÃstadt. In all den Jahren in Vaugirard hatten sie Paris niemals richtig kennengelernt. Das Paris, in dem sie lebte, hatte nichts mit dem Paris zu tun, von dem die meisten Menschen träumten. Jene schöne romantische Metropole hätte von ihr aus gesehen auch am anderen Ende der Welt liegen können.
In einem dunklen Winkel der Gasse lauerte Andrés Katze Mäusen auf. Sie fühlte sich von Sabiha sichtlich gestört.
Sabiha erschrak vor der übermächtigen Versuchung, John alles zu erzählen. Sie ging wieder hinein, schloss die Tür und lehnte sich dagegen. Wäre sie gläubig gewesen, hätte sie ein Gebet gesprochen, für sie alle. Ihre Familie hatte der Religion abgeschworen. Mit Stolz. Geblieben waren nur ein paar Reste des Götterglaubens, der vom Volk ihrer GroÃmutter überliefert wurde. Ihr Vater hatte sich darüber lustig gemacht, aber liebevoll, niemals auf eine derbe Art, stets mit einem Lächeln, mit stillschweigendem Respekt. Sabiha war schon immer gespalten gewesen, hin- und hergerissen zwischen den Ãberzeugungen ihres Vaters und dem Glauben ihrer GroÃmutter. Es war ihr Schicksal, sich über die Konventionen hinwegzusetzen, um ihr Kind zu bekommen. Rückblickend wurde ihr klar, dass sie zu keinem Zeitpunkt eine andere Wahl gehabt hatte. Sie legte beide Hände auf ihren Bauch und flüsterte: »Mein Baby!« Tränen liefen ihr über die Wangen. »Hab keine Angst. Ich bin jetzt bei dir, mein Schatz.«
A uf den Tag genau zwei Wochen nachdem sie Bruno verführt hatte, wachte Sabiha nachts auf, weil sie Blut heraussickern spürte. Sie wusste auf Anhieb, dass es keine Fehlgeburt, sondern ihre Periode war. Der Schock lieà sie ganz starr werden. Ihr Körper hatte sie im Stich gelassen. Das Blut drang durch ihr Nachthemd, tränkte das Laken, spülte ihr die elenden Folgen ihres Scheiterns aus dem Leib. Es kam ihr vor wie ein Hohn. Sie fühlte sich beraubt. Besiegt. Es war alles umsonst gewesen. Sie hatte verloren.
Sie wollte weinen und fluchen und in lautes Geheul ausbrechen, wollte am liebsten etwas Kostbares zerstören, um diesen entsetzlichen Schmerz zu bannen und ihn für immer los zu sein. Sie wünschte sich den Tod. Die barbarischen Götter, denen sie Tür und Tor geöffnet hatte, trieben mit ihr grausame SpäÃe. Für diese Götter war sie nur eine von vielen verzweifelten Frauen. Sie war keine Kriegerin, sondern ein Opfer. Sie hatte keinen Löwen getötet. Mit was für einer lachhaften Arroganz hatte sie sich eingebildet, jene Heldin aus dem Lied ihrer GroÃmutter zu sein!
John berührte Sabihas Schulter, er hob ihre Haare hoch und küsste ihren Nacken. Seine Lippen fühlten sich warm an. »Zeit zum Aufstehen, Liebling«, mahnte er leise.
In völliger Verzweiflung verkroch sie sich unter die Decke.
»Komm schon, steh auf!« John lachte etwas gezwungen. »Du wirst faul auf deine alten Tage«, neckte er sie.
Sie schob seine Hand weg und vergrub sich noch tiefer. »Heute gehst du mal zum Markt.«
Er versuchte, ihr die Decke vom Gesicht zu ziehen.
»Mir geht es nicht gut! Darf ich nicht ausnahmsweise mal krank sein? Nur dieses eine Mal?«
»Soll ich den Arzt holen?«, fragte er sanft.
»Bitte, John! Lass mich einfach in Ruhe!«
Er streifte sich einen Pullover über den Pyjama und ging nach unten.
Während er allein in der kalten Küche stand, nahm er sich fest vor, mit ihr Geduld zu haben. Er durfte ihr seine Unterstützung nicht
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