Sabihas Lied
zog er an seiner Pfeife.
*
Während Sabiha oben im alten Ehebett von Houria und Dom lag und das Blut aus ihr heraussickerte, kam ihr der Begriff besudelt in den Sinn. Alles â dieses Bett, Johns und ihre Liebe, ihre gemeinsamen Erinnerungen, ihr Körper. Alles war besudelt. Johns und ihr Leben. Sie stand auf, holte eine frische Unterhose sowie eine Binde aus der obersten Kommodenschublade, zog beides an und legte sich wieder ins Bett.
Als John ins Zimmer trat, lächelte er sie an und stellte das Tablett mit den dampfenden Kaffeeschalen auf den Nachttisch. Dann setzte er sich an den Bettrand und strich ihr übers Haar. »Du warst noch nie krank«, stellte er fest. Wie zum Segen lieà er die offene Hand auf ihrem Kopf ruhen.
Nach einer Weile stand John auf und trat ans Fenster. Er konnte einen der Kavi-Brüder im Eckladen sehen. Die beiden arbeiteten Tag und Nacht. Irgendwann würden sie als Millionäre nach Indien zurückkehren. Der junge Mann lehnte neben der Registrierkasse am Tresen und las Zeitung. Zwischendurch straffte er die Schultern und blätterte weiter. Er rauchte eine Zigarette, eine offene Colaflasche in Reichweite. Es gab noch keine Kundschaft. Die StraÃe war verwaist.
»Sollte dir jemals etwas zustoÃen«, sagte John, »würde es für das Café das Aus bedeuten.«
Regen hatte eingesetzt. Der Inder neben der Kasse gähnte, richtete sich auf und kratzte sich im Schritt, dann lehnte er sich wieder an, trank einen Schluck Cola aus der Flasche, gähnte noch einmal und blätterte weiter in der Zeitung.
John wandte sich Sabiha zu. Sie hatte zwar die Augen geöffnet, aber sie rührte sich nicht. »Brauchst du vielleicht einen Arzt?«
Halb unter der Decke versteckt, stieà sie hervor: »Würdest du bitte einfach gehen und die Einkäufe erledigen und mich in Ruhe lassen?«
»Trink wenigstens deinen Kaffee, bevor er kalt wird.« John spürte, wie er von Kummer übermannt wurde. »Du musst mir noch eine Liste schreiben.« Er zog sich im Dämmerlicht an, bevor er nach unten ging, um Stift und Papier zu holen.
Als er ins Schlafzimmer zurückkehrte, saà Sabiha aufrecht im Bett, mit angewinkelten Knien, und umfasste mit beiden Händen ihre Kaffeeschale. Sie sah erschöpft und abgespannt aus. Anstatt zu trinken, hielt sie die Schale mit geschlossenen Augen fest, als enthielte sie ein Trankopfer, das Sabiha ihren Göttern darbringen wollte.
John wäre gern bereit gewesen, ein Kind zu adoptieren, aber davon wollte sie partout nichts hören. Sie wollte nur ihr eigenes Kind. Plötzlich kam ihm der Gedanke, dass im ach so vertrauten Ausdruck Wechseljahre eine verborgene Kraft und Bedeutung steckte. Er hatte noch nie darüber nachgedacht, bis André ihm seine Geschichte erzählte. Setzten sie immer so jäh und heftig ein wie bei Simone? Oder gab es vielleicht warnende Vorzeichen? Seltsame Launen, beispielsweise. Grundlose Anfälle blinder Wut.
Ihm stand ein Bild vor Augen: Sabiha in der Ferne, am äuÃeren Rand eines Weizenfelds, jenseits der hohen reifenden Ãhren, einzig ihr Kopf und ihre Schultern waren zu sehen. Sie war allein, in Gedanken versunken. Ihr war nicht bewusst, dass er sie beobachtete. Es war, als betrachtete er ein Gemälde. Die Sonne strahlte, die Wolken waren weit weg, nichts deutete auf einen Umschwung hin. Mein schöner Mann , hatte sie ihn einmal genannt. Damals brauchte er nur ihren Fuà unter dem Tisch eines beliebigen Cafés mit seiner Schuhspitze zu berühren, schon seufzte sie und ergriff seine Hand und flüsterte ihm atemlos zu, er möge ihre Brüste liebkosen. Waren sie inzwischen gezwungen, die Stimme zu erheben, sich gegenseitig anzuschreien, um die wachsende Kluft zu überwinden? Ach, du bist das! John Patterner. Mein Gott, ja, jetzt fällt mir alles wieder ein. Na klar. Der Mann, den ich geheiratet und mit dem ich so viele sinnlose Jahre in diesem dämlichen Café in der Rue des Esclaves verbracht habe. Wie erbärmlich mir das jetzt alles vorkommt. Wie mies und beengt unsere Existenz war. Wie nichtig unser Leben. Wir haben unsere Zeit verschwendet. Sieh uns doch an. Wir waren immer fremd hier, du und ich. Und erst jetzt erkennen wir nach und nach die Wahrheit. Sabihas bitteres Lachen über das absurde Paar, das sie einst waren, ihr körperlicher Ekel, die Art, wie sie ihn zurückwies, ihr gemeinsames Leben preisgab, ihre Erinnerungen
Weitere Kostenlose Bücher