Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)

SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)

Titel: SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Augstein
Vom Netzwerk:
aber für Millionen von Menschen längst zu zentralen Stellen der allgemeinen Existenzverwaltung geworden sind. Adresse für alle Wünsche und – in zunehmendem Maße – für Klagen. Deren Zahl nimmt zu. Denn dieser Sozialstaat macht ja die Nehmenden ebenso wenig glücklich wie die Gebenden. Seit 2005 mehr als eine halbe Million Klagen und mehr als vier Millionen Widerspruchsverfahren: Vor Gericht wird endlos um die zahllosen Irrigkeiten des Sozialgesetzbuches gestritten, über Fragen wie jene, warum der Staat zwar das Gas zum Heizen zahlt, aber nicht das Gas zum Kochen. Die Anwälte leben ganz gut davon, die Bedürftigen gewinnen dabei an Geld zumeist nicht viel. Aber vielleicht an Würde. Denn diese Fülle an Hartz-IV-Klagen muss man auch als Versuch der Wiederaneignung von Würde verstehen.
    In unserem rechtsförmigen System kann eine Klage vor Gericht eine Form des Protests sein, zumal eine Klage gegen den Staat als gebenden und vorenthaltenden Vater. Und Hartz IV ist eine einzige große Entwürdigung. Hartz IV – der CDU-Wirtschaftspolitiker Kurt Lauk hat das bittere Wort von der »arbeitsmarktpolitischen Stilllegungsprämie« gebraucht – entfremdet seine Empfänger vom Leben in normaler Arbeit und macht aus ihnen Überlebensexperten im Dschungel der Regeln und Ausnahmen für Bedarfsgemeinschaften, Überbrückungsgelder und Regelsatzverordnungen. Aber nicht, weil sie faul sind oder ungelernt oder ausgebrannt. Sondern weil Vater Sozialstaat seine Kinder so erzieht, dass sie im System funktionieren.
    Es gehört zu den permanenten Perversionen unseres Wirtschaftssystems, dass es Menschen hervorbringt, die die Politökonomen »Surplusbevölkerung« nennen, die von der Teilhabe am wirtschaftlichen Leben auf lange Zeit, vielleicht für immer, ausgeschlossen bleiben. Und es gehört zu den jüngeren Perversionen unseres Öffentlichkeitssystems, dass jetzt ein lange schwelender Unmut gegen diese Surplusbevölkerung aufbricht.
    Die Empfangenden im Sozialstaat klagen sich ihre Wut vor Gericht von der Seele. Aber auch die Wut der Gebenden findet ihre Kanäle. Im Juni 2009 veröffentlichte Peter Sloterdijk in der »Frankfurter Allgemeinen« seinen Essay über »Die Revolution der gebenden Hand«. Der Erfolg war phänomenal. Sloterdijk lieferte zur rechten Zeit die rechten Argumente und gab all jenen eine Stimme und die dazu passenden Worte, die, wie er selbst, der Auffassung sind, es müsse nun langsam mal gut sein – ganz grundsätzlich, aus bürgerlicher Sicht, mit einer ganzen Menge von Dingen: mit dem Zahlen von Steuern zum Beispiel, mit der Kritik am Kapitalismus und mit dem schlechten Gewissen angesichts zunehmender sozialer Ungleichheit, das selbst bei hartgesottenen Besitzbürgern nach 30 Jahren Neoliberalismus noch immer nicht vollständig abgestumpft ist.
    Sloterdijks Text war eine Erinnerung daran, dass das Wort »bürgerlich« im Deutschen zwei Bedeutungen zur gleichen Zeit hat, die eigentlich in unterschiedliche Richtungen weisen: den Citoyen als Staatsbürger und den Bourgeois als Besitzbürger. Es ist keine Frage, an wen sich Sloterdijk wandte.
    »Kapitalismus«, das Wort schreibt Sloterdijk nur in Anführungszeichen, so wie der Springer Verlag es einst mit der DDR gehalten hat. Damit so ein Wort bloß nicht in den Bereich des Üblichen eintritt, sondern bei jeder Verwendung gleichsam sofort wieder gelöscht werde. Es war die hohe Zeit der Krise. Genau der Moment, da den Menschen die Realität von Kapital und Kapitalismus deutlich wurde und sie darum auch wieder begannen, sich der richtigen Begriffe zu bedienen, die aber lange verpönt waren. Dem begegnete Sloterdijk, indem er die Worte durch ihren Gebrauch sogleich negierte. Welchen besseren Weg gibt es, der Kapitalismuskritik vorzubeugen, als den Versuch zu unternehmen, ihr das Wort vom Kapitalismus zu entziehen?
    Mit dem »FAZ«-Artikel begann ein kleiner philosophischer Grundkurs im gepflegten Egoismus, der danach noch in »Cicero« und »Zeit« fortgesetzt wurde, den anderen Zentralorganen des Besitzbürgertums. Sloterdijk baut dem ins Feuer geratenen Kapitalismus, der so nicht heißen darf, eine argumentative Brandmauer und klopft den Begünstigten der vergangenen Jahre beruhigend auf die Schulter: Sie sollen nur ruhig weiter ihren Geschäften nachgehen, den Segen des Philosophen haben sie!
    Sloterdijk betätigt sich als argumentativer Falschmünzer: Er jubelt seinen Gegnern ein selbstverfertigtes Argument unter, hält es ihnen als wertlos vor und

Weitere Kostenlose Bücher