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SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)

SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)

Titel: SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Augstein
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SPD ist hier ein linker Flügel verlorengegangen. Am besten wäre es, der Flügel kehrte zurück. Die Erinnerung daran, was demokratischer Sozialismus ist, ist sehr wichtig. Es handelt sich da ja nicht um ein wissenschaftliches Projekt. Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft war ein gefährlicher Irrweg.
    A: Sie sagen, der Begriff Sozialismus sei Ihnen im Grunde egal, es gehe Ihnen um die Sache. Aber wir brauchen doch solche Begriffe.
    N: Wir müssen die Begriffe wieder mit Inhalt füllen. Die Erinnerung an die Tradition des Protestes, die Tradition der sozialistischen Bewegung, die Tradition der Gewerkschaftsbewegung eröffnet Perspektiven in die Zukunft. Die Verbindung von Vergangenheitsverarbeitung und Zukunftsvisionen ist das wichtigste Element der politischen Bildung. Wir müssen uns erinnern.

TEIL 2 REFLEX

07 ZYNISMUS
    Die Ministerin Ursula von der Leyen hat einmal im Fernsehen gesagt: »Es kann nicht sein, dass in unserem Land der Erfolg der Kinder in der Schule davon abhängt, was die Eltern für einen Bildungsstand haben.« Ihr gegenüber saß der Journalist Michael Spreng, der das sogleich als die »Standardrede« der Ministerin bezeichnete, »bei der Sie immer die Kinder in den Vordergrund schieben«. Von der Leyen erwiderte mit vor Zorn zitternder Stimme und entsprechend brüchiger Grammatik: »Welch ein Hohn und Spott von Ihnen zu hören über die Kinder! Wenn Sie das als Standardrede empfinden!« Worauf Spreng wie entgeistert erwiderte: »Das ist ja noch heuchlerischer, was Sie jetzt machen!«
    Von der Leyen ist Ministerin der CDU. Diese Partei hat seit Bestehen der Bundesrepublik die längste Zeit im Land regiert. Sie hatte nicht wenig Gelegenheit, Deutschlands traurigem Ruf, die undurchdringlichste Klassengesellschaft des Westens zu sein, ein Ende zu setzen. Will nun ausgerechnet sie Gerechtigkeit für die Kinder?
    Michael Spreng ist Fachmann für öffentliche Beziehungen. Das bedeutet PR ja, er war Chefredakteur der »Bild am Sonntag« und Berater von Edmund Stoiber. Wundert nun ausgerechnet er sich über die wahren Absichten der Ministerin? Wer ist der Zyniker? Der die Intentionen solcher Aussagen anzweifelt? Oder der sie tätigt? Oder beide?
    Am Anfang seiner »Kritik der zynischen Vernunft« hat Peter Sloterdijk über die »den Philosophen ins Leere schickende Lage« geschrieben, »in der Lügner Lügner Lügner nennen«. Das erleben nicht nur Philosophen, sondern auch Wähler oder Journalisten. Dabei wird in der Politik vermutlich gar nicht so viel gelogen. Die Lüge hat kurze Beine, sie trägt nicht weit. Es ist für einen Politiker nach wie vor nicht gerade hilfreich, bei einer Lüge ertappt zu werden. Aber der große Bruder der Lüge ist der Zynismus. Lügner sagen Dinge, die nicht stimmen. Zyniker sagen Dinge, die sie nicht glauben. Es ist ein Kennzeichen unserer Politik, dass Zyniker Zyniker Zyniker nennen.
    Wir trauen dem Fachpersonal inzwischen zu, dass es öffentlich Amoralität vorlebt. Aber ohne Moral kann die Demokratie nicht überleben. Der Zyniker braucht sein Gegenüber. Er selber erzeugt nichts. Die Werte, an die er nicht mehr glaubt, wurden von anderen geschaffen. Gekonnte Verwaltung allein macht noch keine Zivilgesellschaft aus. Ohne ein Mindestmaß an Glaubwürdigkeit in der Politik gehen der Demokratie die Demokraten aus. Es bleiben statt Citoyens nur mehr Verwaltungsbürger, die ihrem Zynismus noch freieren Lauf lassen als die Politiker.
    Wir beobachten, wie mit der sozialen Armut auch die emotionale voranschreitet. Das Gefühlsprekariat wächst. Auch hier versagt der Sozialstaat. Für die Arbeitslosen im unteren Viertel der Gesellschaft gibt es wenigstens Hartz IV. Für die Emotionslosen im oberen Viertel nicht mal das. Die Leute, denen Verantwortung und Empfindung abhandengekommen sind, sammeln sich in den einschlägigen Kältestuben, etwa des Internets, und schimpfen dort auf die »Gutmenschen«, also jene, die noch nicht alle Hoffnung haben fahren lassen. Sie kleben sich »Eure Armut kotzt mich an« auf die Stoßstangen ihrer Autos, um sich vor den moralischen Kollisionen im ruppiger werdenden sozialen Verkehr zu schützen.
    Währenddessen streiten die Experten über Hartz IV: Kein Geld mehr für Zigaretten und Alkohol. Stattdessen ein paar Euro mehr für Mineralwasser. Klassenfahrten und Schulmaterial, Musik und Freizeit – alles im Einzelfall zu überprüfen und zu genehmigen von den Mitarbeitern jener Behörden, die Jobcenter heißen, die

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