SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)
Sloterdijks Rehabilitierung des Egoismus: um eine große Sehnsucht nach kühler Stärke und einen großen Ekel im Angesicht des Schwachen. Die konservativen Intellektuellen und die besser als durchschnittlich gebildeten Bürgersleut hatten bestellt, und Sloterdijk als Lieferant für feinsinniges Ressentiment war der Bestellung nachgekommen.
Aber auch die Kunden fürs eher Grobschlächtige kamen in dieser Ära der besitzbürgerlichen Regierung auf ihre Kosten. Ihnen half Thilo Sarrazin aus der argumentativen Versorgungslücke. Sarrazin, Finanzpolitiker, Bundesbanker, SPD-Mitglied, gab im Herbst 2009 der Zeitschrift »Lettre International« ein inzwischen legendäres Interview zur Lage der Stadt Berlin. Es war ein chronologischer, aber durchaus kein inhaltlicher Zufall, dass Angela Merkel zur selben Zeit zum zweiten Mal zur Kanzlerin gewählt wurde. Das Interview wurde zum Wendepunkt der öffentlichen Debatte – und auch für Sarrazins Leben. Sarrazin wurde zum bösen Geist der sozialen Kälte. Zuerst genoss er es, dann entglitt es ihm, und am Ende hatte er Ruf und Ämter verloren. Aber zuvor hatte er noch mit seinem düsteren Bestseller »Deutschland schafft sich ab« abkassiert.
Sloterdijk baute den Bannerträgern der sozialen Verachtung kunstvoll-hochragende philosophische Brücken, während Sarrazin ihnen den Boulevard pflasterte und sich dabei als Meister des Zynismus und der zweifelhaften Zahlen zeigte.
Er hatte nie einen Hehl daraus gemacht, mit welch gleichgültigem Blick er Welt und Menschen sah. Anfang 2008, als er noch Berliner Finanzsenator war, hatte er mit einem Hartz-IV-Menü von sich reden gemacht. Der Senator hatte den Ärmsten der Armen ein paar schlechtgemeinte Ratschläge zur billigen Ernährung gegeben: »Man kann sich vom Transfereinkommen vollständig, gesund und wertstoffreich ernähren«, sagte Sarrazin damals. Er hatte Mitarbeiter seines Ministeriums in einen Supermarkt geschickt, und sie waren mit diesen Informationen zurückgekehrt:
FRÜHSTÜCK: 2 Brötchen, 30 Cent; 25 Gramm Marmelade, 6 Cent; 20 Gramm Butter, 10 Cent; 1 Scheibe Käse, 25 Cent; 1 Apfel, 24 Cent; 1 Glas Saft, 200 ml, 30 Cent; 2 Tassen Tee, 10 Cent.
MITTAGESSEN: Spaghetti Bolognese, 100 Gramm Hack, 38 Cent; 125 Gramm Spaghetti, 15 Cent; 200 Gramm Tomatensauce, 40 Cent; div. Gewürze, Öl, 10 Cent.
SNACK: 1 Kaffee, 5 Cent; 1 Joghurt, 35 Cent
ABENDESSEN: ½ Gurke, 30 Cent; 130 Gramm Leberkäse, 56 Cent; 200 Gramm Kartoffelsalat, 34 Cent.
Das machte eine Summe von 3,98 Euro und blieb damit noch unter dem damals gültigen Regelsatz, der für einen Erwachsenen ein Ernährungsbudget in Höhe von 4,25 Euro vorsah. Pro Tag. 128 Euro im Monat.
Es ist das eine, wenn die Finanzverwaltung einer Stadt, eines Bundeslandes, Berechnungen über die soziale Lage ihrer Bedürftigen und über ihren eigenen Haushalt anstellt. Und es ist etwas anderes, wenn ein Politiker aus frivoler Freude an der Provokation seine statistischen Späße auf dem Rücken der Ärmsten treibt. Das war bei Sarrazin der Fall. »Ich persönlich habe natürlich auch Freude daran, mich hie und da so klar und deutlich auszudrücken«, sagte er der »Welt«, als die öffentliche Wut über sein Hartz-IV-Menü über ihn hereinbrach.
Der CDU-Politiker Heiner Geißler reagierte richtig. Er rechnete dem Zahlenfetischisten Sarrazin vor, was sein Ernährungsplan in Wahrheit bedeuten würde. Geißler zählte mal durch, wie viel Kalorien auf Sarrazins Essensplan stünden: »Mit dieser vom Finanzsenator als ausreichend befundenen Kalorienmenge von durchschnittlich 1550 kcal täglich leiden selbst die untätigsten Arbeitslosen nach vier Wochen an Unterernährung. Nach den Referenzwerten der Deutschen Gesellschaft für Ernährung beträgt die notwendige Energiezufuhr für Männer zwischen 25 und 50 Jahren bei ausschließlich sitzender Tätigkeit schon 2400 kcal; läuft der betreffende Mensch noch herum, z.B. zur Jobagentur, braucht er leicht über 3000 kcal.« Geißler sagte, Sarrazins Rechnung sei eine Frechheit.
Aber das war erst der Anfang des entsicherten Senators.
Sein Berlininterview war eine Ausweitung der Kampfzone. Sarrazin gab dem Ressentiment ein Gesicht, einen Namen und einen Hauch von Reputation. Der »Lettre«-Chefredakteur Frank Berberich fragte ihn: »Welchen Traum hätten Sie von Berlin?« Und Sarrazin überraschte durch eine unerwartete Inversion: Er antwortete nicht in den Stereotypen von digitaler Boheme, kreativem Lebevolk und machtnüchternen
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