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SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)

SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)

Titel: SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Augstein
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Politprofessionellen. Er setzte dagegen ein anderes Stereotyp, das sich sonst selten ins Licht der Öffentlichkeit traut: das Stereotyp des spießigen, antiintellektuellen, rassistischen Kleinbürgers. »Ich würde aus Berlin eine Stadt der Elite machen. Das würde voraussetzen, daß unsere Massenuniversitäten nicht weiterhin massenhaft Betriebs- oder Volkswirte, Germanisten, Soziologen ausbilden, sondern konsequent Qualität anstreben. Die Zahl der Studenten sollte gesenkt, und nur noch die Besten sollten aufgenommen werden. Dazu müssen wir die Universitäten von Massenbewältigung auf Qualität umtrimmen, das kostet Geld und Kapazität, aber es würde talentierte und hochmotivierte Studenten in die Stadt bringen. Das bedeutete, Ausgaben umzuschichten. Es gibt überhaupt keinen Grund dafür, daß Berlin die Ausbildungsstätte ganz Deutschlands bleiben muß. Berlin sollte für die Besten attraktiv sein, und da viele zu uns kommen wollen, gibt es auch einen Ansatzpunkt. Ich würde auch im Berliner Bildungssystem andere Akzente setzen. Die Schulen müssen von unten nach oben anders gestaltet werden.« Zum Schulthema insbesondere hatte Sarrazin stets prononcierte Ansichten, da seine Ehefrau zu dieser Zeit noch als Lehrerin arbeitete. Ein Amt, das sie, die in ihrem Metier nicht weniger radikal war als ihr Mann in dem seinen, später verlor.
    Jedenfalls kam Sarrazin jetzt überhaupt erst auf sein eigentliches Thema zu sprechen. Denn nicht faule Studenten – ein Topos, dem man lange nicht mehr begegnet war – interessierten ihn in Wahrheit, sondern:
    »Dazu gehört, den Nichtleistungsträgern zu vermitteln, daß sie ebenso gerne woanders nichts leisten sollten. Ich würde einen völlig anderen Ton anschlagen und sagen: Jeder, der bei uns etwas kann und anstrebt, ist willkommen; der Rest sollte woanders hingehen. Wenn der Bürgermeister in zehn öffentlichen Reden über die Zukunft der Stadt philosophiert und in diesem Zusammenhang die akademischen Leistungen der Vietnamesen, Araber und Türken einmal öffentlich vergleicht, dann würde etwas geschehen. Dann würde klar, daß man eine Stadt der Elite möchte und nicht eine ›Hauptstadt der Transferleistungen‹. Dazu gehört auch, daß man bei der Wirtschaftsansiedlung anders vorgeht. Die Medien sind orientiert auf die soziale Problematik, aber türkische Wärmestuben können die Stadt nicht vorantreiben. An der Mentalität in der Stadt muß sich etwas ändern.«
    Die sagenhafte, spukgleiche Geschichte des Erfolges, den Sarrazin ein Jahr später mit seinem Buch erzielte, ist im öffentlichen Bewusstsein noch ganz gegenwärtig. Aber man muss sich an diese Worte aus dem »Lettre«-Interview erinnern, die sich bald wie ein Lauffeuer verbreiteten und die schon einmal die Probe aufs Exempel machten: Was geht im deutschen Diskurs? Die Antwort: Eine Menge! Auf die Frage, wer verantwortlich sei, wenn die Integration von Einwanderern scheitere, sagte Sarrazin: »Integration ist eine Leistung dessen, der sich integriert. Jemanden, der nichts tut, muß ich auch nicht anerkennen. Ich muß niemanden anerkennen, der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt und ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert.« Wann zuvor hatte ein hoher Repräsentant der politischen und institutionellen Elite dieses Landes einen solchen Satz gesagt?
    Erstaunlich war nicht der Zorn der Gerechten, der sich über dem Senator entlud. Erstaunlich war, wie viele Büchsenspanner eines neuen Sozialdarwinismus sich aus der Deckung wagten und plötzlich Morgenluft witterten. Allen voran Peter Sloterdijk, Sarrazins philosophisches Pendant. Er nahm das spießige Manifest des Senators geradezu zum Anlass seines Lobs der Leistungsträger, den er im Herbst 2009 in der Zeitschrift »Cicero« veröffentlichte und in dem er auf die heftige Kritik an seinem »FAZ«-Artikel reagierte. »Wir haben uns – unter dem Deckmantel der Redefreiheit und der unbehinderten Meinungsäußerung – in einem System der Unterwürfigkeit, besser gesagt: der organisierten sprachlichen und gedanklichen Feigheit eingerichtet, das praktisch das ganze soziale Feld von oben bis unten paralysiert. ... Denken wir an den entlarvenden Vorgang, der sich vor wenigen Wochen anlässlich einiger kantiger Formulierungen des ehemaligen Berliner Finanzsenators Thilo Sarrazin entwickelt hat: Weil er so unvorsichtig war, auf die unleugbar vorhandene Integrationsscheu gewisser türkischer und

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