SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)
freigekauft, Sokrates wurde umgebracht. Sie waren Bundeskanzler Gerhard Schröder sehr nahe und haben ihn trotzdem nicht von den Hartz-Gesetzen abhalten können. Kann der Gelehrte der Politik nicht helfen?
N: Immerhin landet man heute nicht unbedingt auf dem Sklavenmarkt, wenn die Vorstellung von Potentaten, wie sie sich die Welt vorstellen, nicht umgesetzt wird. Henry Kissinger, einst Sicherheitsberater von Richard Nixon, hat einmal gesagt, das Wichtigste war, den Beratungswunsch überhaupt herzustellen. Je mächtiger die Leute sind, desto stärker verändert sich auf die Dauer die Beratung in eine Art Festveranstaltung.
A: Der Philosoph als Narr?
N: Die Mächtigen sind stolz auf die Namen, die sie präsentieren können. Ich kenne keinen Intellektuellen, der nicht auch praktisch sein möchte. Ludwig Marcuse hat in einer Schrift über den Tyrannen Dionysos, der Plato nach Syrakus einlud, geschrieben, das Problem sei nicht, dass dieses Experiment gescheitert ist, sondern das Problem sei, dass so etwas in unserer Zeit zu wenig versucht werde. Nicht immer ist das Gelingen das Entscheidende, sondern gerade das Unterlassen des Versuchs. Das hat etwas zu tun mit der Verkümmerung des überschreitenden Denkens. Adorno hat einmal gesagt, wer nicht weiß, was über die Dinge hinausgeht, der weiß auch nicht, was sie sind. Und ja, Sie haben recht, die guten Motive der Hartz-IV-Reform will ich gar nicht in Frage stellen. Was daraus geworden ist, ist eine absolute Katastrophe.
A: In Ihrem Buch zitieren Sie dazu Ciceros Wort von der » res publica amissa « , der vernachlässigten, der verlorenen Demokratie. Eine Ordnung, in der die genuinen Demokraten immer weniger werden, sagen Sie. Eine vergleichbare Vernachlässigung habe zum Untergang der Weimarer Republik geführt. Ist die Lage so ernst?
N: Die Lage könnte ernster sein. Aber sie wird ernster werden, wenn wir die sich immer weiter ausbreitende Spaltung der Wirklichkeit nicht wahrnehmen. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als ob alles mit rechten Dingen zugeht. Es gibt da diese komischen Kapriolen des Rechtssystems: Ein Arbeitsrichter bestätigt die Kündigung eines Mitarbeiters, weil er eine Maultasche gegessen, aber nicht bezahlt hat. Die oberste Instanz kassiert es dann wieder. Da könnte man denken, die Dinge seien in Ordnung. Aber ich glaube, dass hier eine grandiose, auch durch die mediale Welt zementierte Täuschung über die Stabilität des Systems vorliegt.
A: Ist das Problem eines der falschen Adressierung? Wissen die Leute nicht mehr, wer ihre Interessen vertritt?
N: Cicero bezieht sich auf die Lage in der Römischen Republik: Da werden im Senat Reden gehalten. Aber wenn Caesar kommt, schweigen alle. Das war am Ende tödlich für ihn. Der Opposition blieb nur das Schweigen. Am Ende hatte Caesar 23 Messerstiche im Körper. Unterhalb der sichtbaren Wirklichkeitsebene hatte sich etwas anderes gebildet, nämlich das Prinzipat.
Am Stuttgarter Bahnhof gibt es einen Zaun, der davon abhalten soll, den Abriss zu behindern. Er ist bedeckt von tausenden Parolen. Da können Sie sehen, wie die offizielle Politik an den Bedürfnissen der Menschen vorbeiagiert. Der Zaun soll jetzt in ein Museum kommen. Das finde ich gut. Denn unsere Kinder müssen wissen, was schiefgelaufen ist in der Demokratie.
A: Ist dieser Protest ein Anzeichen für die Rückkehr des politischen Menschen?
N: Es ist ein Signal. Aber nicht in der Größenordnung von Kant, der die Französische Revolution ein Geschichtszeichen nannte.
A: Sie verstärken immer weiter den Eindruck, als befänden wir uns an einem Vorabend der Revolution. In Ihrem Buch zitieren Sie Hegels Wort vom Umschlagen des Quantitativen ins Qualitative. Sind wir an einem solchen Umschlagpunkt des Systems?
N: In der Nähe davon. Aber die Subjekte sind daran höchst beteiligt. Ob etwas umschlägt, liegt an den Menschen selbst. Ich bin da ganz optimistisch. Hegel sagt, die Eule der Minerva beginnt ihren Flug erst bei Beginn der Dämmerung. Aber warum soll sie sich nicht auch mal zur Morgenröte auf den Weg machen?
A: Eulen machen das nicht.
N: Aber die Menschen könnten das machen.
A: Sie sagen, der Kapitalismus wolle den Menschen von seinen Wurzeln entfernen, weil sie ihm Kraft zum Widerstand geben. Warum können wir uns im Kampf gegen dieses System nicht auf die Konservativen verlassen, die ein Interesse an diesen Wurzeln haben?
N: Die Konservativen sind in der Regel keine genuinen Demokraten. Allerdings kann man mit
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