SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)
begründet damit die Wahrheit des eigenen, gegenteiligen Standpunkts. Das war brillant und lustig zu lesen. Aber es war eben auch großer Unfug.
Sloterdijk hatte 1983 geschrieben: »Zynismus, als aufgeklärtes falsches Bewusstsein, ist eine hartgesotten-zwielichtige Klugheit geworden, die den Mut von sich abgespalten hat, alle Positivitäten a priori für Betrug hält und darauf aus ist, sich nur irgendwie durchzubringen« – das war seine berühmte Zynismusdefinition, mit der auch er berühmt wurde. Damals wandte er sich gegen ein Denken, das sich unter dem Deckmantel des Realismus mit der allzeit möglichen atomaren Auslöschung der Menschheit arrangiert zu haben schien. Knapp 30 Jahre später zeigte sich, dass Sloterdijk, was den Zynismus angeht, die Seiten gewechselt hatte. Inzwischen wirft er sich für ein Denken in die Bresche, das sich – wiederum unter dem Deckmantel des Realismus – mit der überall gegenwärtigen Ausbeutung des Menschen durch den Menschen arrangiert hat.
Das Problem an Sloterdijks Idee, Steuern durch freiwillige Gaben abzulösen, war: Er meinte sie ernst. Er beharrte auch unter dem Feuer der Kritik auf seinem Gedanken an eine »Steuerreform aus dem Geist des Gebens«. Es war Axel Honneth zu danken, den Sloterdijk als »Nachfahren der erloschenen Frankfurter Schule« verspottete, diesen gefährlichen Unsinn als das entlarvt zu haben, was er war: »Klassenkampf von oben.«
Dazu gehört ein entsprechend revolutionäres Gedankenprojekt. Sloterdijk war auf die Idee gekommen, dass tatsächlich eine Ausbeutung stattfindet. Aber, und das ist wirklich mal was Neues, die Armen sind die Ausbeuter: »An der neuen politischen Front stoßen zwei finanzpolitische Großgruppen aufeinander: hier die Transfermassengeber, die aufgrund von unhintergehbaren Steuerpflichten die Kassen füllen, dort die Transfermassennehmer, die aufgrund von festgelegten Rechtsansprüchen die Kassen leeren.« Sloterdijk hat nämlich festgestellt, dass die »voll ausgebauten Steuerstaaten« jedes Jahr »die Hälfte aller Wirtschaftserfolge ihrer produktiven Schichten für den Fiskus« reklamieren, »ohne dass die Betroffenen zu der plausibelsten Reaktion darauf, dem antifiskalischen Bürgerkrieg, ihre Zuflucht nehmen«. Ein solcher Bürgerkrieg – man erinnert sich auch an den Aufruf Arnulf Barings aus dem Jahr 2002: »Bürger auf die Barrikaden« – wäre nach dieser Lesart also durchaus gerechtfertigt. Der Staat kann froh sein, dass es noch nicht dazu gekommen ist. Wenn die Bürger darauf verzichten, haben sie gewissermaßen einen gut. Sie haben ein moralisches Plus gegenüber diesem Steuerstaat, dem sie ihr Geld in den Rachen werfen. Und schon sowieso gegenüber jenen, denen dieses Geld dann zugutekommt.
Es versteht sich da fast von selbst, dass Sloterdijk feststellt: »Wir leben gegenwärtig ja keineswegs ›im Kapitalismus‹ – wie eine so gedankenlose wie hysterische Rhetorik neuerdings wieder suggeriert –, sondern in einer Ordnung der Dinge, die man cum grano salis als einen massenmedial animierten, steuerstaatlich zugreifenden Semi-Sozialismus auf eigentumswirtschaftlicher Grundlage definieren muss.«
Da jubelt der Leistungsträger. Ein staatlich anerkannter Philosoph – davon gibt es auf der Rechten ja nicht so viele – attestiert dem Wutbürger ein Recht auf ein gutes Gewissen, das ihm im sozialdemokratischen Zeitalter genommen worden war. Nur damit keine Missverständnisse aufkommen: Der letzte sozialdemokratische Kanzler hieß Helmut Kohl. Und der erste Kanzler des postsozialdemokratischen Zeitalters war Gerhard Schröder. Sloterdijk sagt, unter Kohl sei »ein einzigartiges psychopolitisches Syndrom entstanden«, das er die »deutsche Lethargokratie« nennt: »Da rutschte jeder jeden Buckel runter, der abwärts ins Wahrscheinlichere führt, immer entropisch munter hinunter ins Allzumenschliche, der sozialen Endformel entgegen: Urlaub, Umverteilung, Adipositas.«
Jeder ist für seine Worte verantwortlich, und Anspruch auf Dispens für intellektuelle Koketterie gibt es nicht. Sloterdijk wählte für sich selbst in seinen Aufsätzen die Rolle eines neuen Nietzsche. Er redet einer »Thymotisierung« des Kapitalismus das Wort. Also einer Neugründung in Stolz und Mut. Aber Sloterdijk ist kein Nietzsche, und über den moralischen Spielraum des neunzehnten Jahrhunderts verfügen wir Heutigen nicht mehr. Wir kennen den Weg, den die Abwertung des Schwachen nehmen kann. Und darum handelt es sich ja bei
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