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SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)

SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)

Titel: SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Augstein
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nicht zu erklären, die er über ihn ausschüttet. Der Mensch, der sich um das Gute bemüht, stellt das zynische Weltbild auf die gefährlichste Art und Weise in Frage: durch die Hoffnung. Zynismus ist deshalb so kalt, weil ihm jede Hoffnung fehlt. Die größten Zyniker sind die größten Enttäuschten. Darum müssen sie alle niedermachen, bei denen noch die Wärme der Hoffnung zu spüren ist.
    Der Publizist Georg Seeßlen ist zum Beispiel alles andere als ein Zyniker, wenn er schreibt, der Sinn einer Debatte bestehe darin, »sich an eine Wahrheit heranzuarbeiten« 16 . Da hört man die Habermas-Frage im Hintergrund, wie denn »eine diskursive Meinungs- und Willensbildung unter Bedingungen sozialstaatlicher Massendemokratie so eingerichtet werden kann, dass das Gefälle zwischen aufgeklärtem Selbstinteresse und Gemeinwohlorientierung zwischen den Rollen der Klienten und des Staatsbürgers überbrückt wird«? Die Antwort lautet: Manchmal gar nicht. Denn der Sinn sehr vieler Debatten besteht in allem Möglichen, nur nicht darin, sich an die Wahrheit heranzuarbeiten.
    Die Sarrazin-Debatte war dafür ein gutes Beispiel – jedenfalls, was ihren Urheber betraf. Sarrazin ging es um Anerkennung. Die bekam er auf dem Bahnhof, im Taxi, in der Bäckerei. Das schrieb er selber. All die Menschen, die ihm auf die Schulter klopften, das Glas auf ihn hoben, ihm einen ausgeben wollten. Das war die Anerkennung des Volkes. Thilo Sarrazin wollte aber nicht nur die Anerkennung des Volkes, sondern die der Menschen, die man die Eliten nennt. Die war ihm versagt geblieben. Denn so weit hatte ja der zivilisatorische Konsens in diesem Land lange gehalten, dass die Eliten einem Rassisten und Kulturchauvinisten die Anerkennung versagten.
    Aber die bürgerliche »Frankfurter Allgemeine« öffnete die Tür einen ziemlich großen Spalt breit. Sie ließ Sarrazin – zu Weihnachten – einen langen Artikel schreiben, in dem es unter anderem hieß: »Die von mir genannten Statistiken und Fakten hat keiner bestritten.« Er baute hier eine Täuschungskulisse auf. »Statistiken und Fakten«, die niemand bestritten habe. Beim Leser soll dadurch der Eindruck erweckt werden, dass Sarrazin unbestrittene Wahrheiten verkündet habe. Das stimmte nicht. Die Experten waren geradezu kohortenweise über Sarrazins Kurzschlüsse hergefallen. Denn tatsächlich waren zwar nicht die Daten falsch, die er nutzte, sondern die Schlüsse, die er daraus zog.
    Das augenfälligste Beispiel waren Sarrazins Äußerungen zum Verschwinden der Deutschen. Er schrieb: »Beim gegenwärtigen demographischen Trend wird Deutschland in 100 Jahren noch 25 Millionen, in 200 Jahren noch 8 Millionen und in 300 Jahren noch 3 Millionen Einwohner haben.« Dazu äußerte der Bevölkerungswissenschaftler Herwig Birg, dass die Zahl der Deutschen im Jahr 2100 bei 46,1 Millionen liegen werde. Es spielt an dieser Stelle keine Rolle, wer recht hat, das ist ein Streit, den man gerne den Experten überlassen kann. Eine entscheidende Rolle spielt, dass Sarrazin log, als er vorgab, mit Fakten zu handeln, während er in Wahrheit mit Manipulationen handelte. Und eine Rolle spielte, dass eine Zeitung wie die »FAZ« dem Mann eine Bühne bot. Und dass ihm schon der »Spiegel« eine noch größere Bühne geboten hatte, als er Sarrazins Buch in Auszügen als Vorabdruck veröffentlichte. Und die »Bild«-Zeitung war natürlich auch dabei.
    Ohne die Medien wäre Sarrazins Erfolg nicht vorstellbar gewesen. Die Medien übernahmen Verantwortung für die Inhalte, die sie publizierten. Sie machten sich mit Sarrazin gemein. Und es gab da einen verblüffenden bürgerlich-publizistischen Gleichklang, der gut passte zu den Resonanzen des Ressentiments, die der Soziologe Heitmeyer im Untergrund der deutschen Seele registriert hatte. Einen ähnlichen Ton schlug ja auch Giovanni di Lorenzo, Chefredakteur der »Zeit«, in der sogenannten Hartz-IV-Debatte an.
    Es ging im Jahr 2010 um die Auseinandersetzung über Hartz IV und ein paar überraschende Sätze des FDP-Chefs Guido Westerwelle zu diesem Thema. Das Bundesverfassungsgericht hatte Anfang des Jahres die Hartz-IV-Zahlungen für verfassungswidrig erklärt. Westerwelle veröffentlichte daraufhin in seiner Funktion als FDP-Chef einen Artikel in der »Welt«, Überschrift: »An die deutsche Mittelschicht denkt niemand.« Westerwelle sagte, die Diskussion nach der Karlsruher Hartz-IV-Entscheidung trage »sozialistische Züge«. Es werde nur die Frage debattiert: »Wer

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