SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)
darum nicht kümmern und die Täter ungestraft lassen? Nein, natürlich muss der Staat diesem Missbrauch vorbeugen, so gut er kann, und ihn ahnden. Aber das war ja gar nicht die entscheidende Frage. Die lautete vielmehr: Handelte es sich bei solchem Missbrauch um ein Massenphänomen, um ein gravierendes Problem des Systems, um eine Schwäche des Sozialstaats, um einen Missstand, den die »Zeit« in einem Leitartikel ihres Chefredakteurs anprangern musste? Die Antwort kann nur lauten: Um all das handelte es sich nicht.
Die »Zeit« gehört zu den besten Zeitungen des Landes und di Lorenzo zu seinen besten Journalisten. Umso bedeutungsvoller war dieser Leitartikel. Was das journalistische Handwerk angeht, muss sich die Zeitung keine Vorwürfe gefallen lassen. Die »Zeit« hatte keine eigentlich falschen Informationen veröffentlicht. Und Leitartikel sind dazu da, Meinungen zu formulieren. Aber es war ja gerade die Meinung, die hier formuliert wurde, die ein erstaunliches Zeichen dafür war, welchen Weg die Diskussion über sozialstaatliche Verantwortung und gesellschaftlichen Zusammenhalt inzwischen genommen hatte. In welcher Gesellschaft wollen wir leben? An solchen Leitartikeln lässt sich ablesen, wie sehr sich die Antwort auf diese Frage verändert hat. Und es hat sich wohl auch die Antwort auf eine andere Frage verändert: Welche Rolle sollen die Medien in dieser Diskussion spielen? Auf wessen Seite stehen sie? Was ist ihre Funktion?
Es gibt gute Gründe für die Vermutung, dass diese Funktion nicht mehr dieselbe ist wie in den siebziger oder achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Nicht mehr Kritik, sondern Stabilisierung. Nicht mehr Hinterfragen, sondern Erklären. Das gilt nicht für alle Medien, so wie früher nicht für alle das Gegenteil galt. Aber es gilt für die großen, für den Mainstream.
»Die freien Medien sind ja sozusagen ein Teil des Lebenselixiers jeder Demokratie.« Das hat Angela Merkel gesagt, die bekanntlich eine der mächtigsten Frauen der Welt ist, aber nicht eine der wortmächtigsten. Sie hat das im März 2009 vor jungen Journalisten gesagt. Journalismus tut not, denkt man ja. So wie Seefahrt früher nottat. Navigare necesse est. Aber der Spruch geht noch weiter: Vivere non est necesse. Man muss zur See fahren, aber nicht leben. Das war schon zur Römerzeit Unsinn, und umgekehrt wurde der Schuh daraus. Dem Journalismus könnte es ähnlich ergehen: Ein Leben ohne ihn ist vorstellbar.
In Amerika sterben die Zeitungen, hierzulande leiden sie. Amerika ist uns immer ein bisschen voraus. Was hat der Journalismus in Amerika falsch gemacht, dass die Menschen meinen, ohne ihn auskommen zu können? Dass der Journalismus nicht mehr nottut? Gay Talese sagt: »Die Medien sind der Macht zu nahe gekommen. Der perfekte Journalist ist immer ein Fremder.« Gay Talese, der große amerikanische Reporter, Abkömmling italienischer Einwanderer, Kind einer Zeit, in der Journalisten und Politiker aus zweierlei Holz geschnitzt waren, in der sie Angehörige verschiedener Klassen waren, in der sie ihre Kinder nicht auf dieselben Schulen schickten und ihr Mittagessen nicht in denselben Restaurants verzehrten. Das ist Vergangenheit. In Amerika, in Europa, in Deutschland. In Berlin wurde Steffen Seibert, der »Anchorman« einer der wichtigsten Nachrichtensendungen, zum Regierungssprecher, und die Verwunderung hielt sich in Grenzen. Dabei hätte sie grenzenlos sein müssen.
Talese beschreibt die Journalistengeneration der amerikanischen Nachkriegszeit, deren Eltern Einwanderer waren. Sie berichteten über eine andere Klasse, eine höhere Klasse, die white anglosaxon protestants der Ostküste: »Wir warteten draußen, bis sie herauskamen und uns Krümel hinwarfen. Brocken. Wir haben sie nicht gehasst. Wir haben sie beobachtet. Es fiel uns leicht, dagegen zu sein.« Und heute? Man hat sich angenähert. Der soziale Aufstieg hat die Journalisten selber in die herrschende Klasse gespült: Ihre Kinder besuchen dieselben Schulen, sie wohnen in denselben Vierteln, sie gehören zu denselben Clubs: »Es gibt zwischen den Medien und der Macht heute eine Verwandtschaft, die es früher nicht gab. Einen Mangel an Skeptizismus.«
Es ist gefährlich, wenn sich die Mächtigen und die Medien zu nahe kommen. So war das nicht gedacht mit dem Journalismus. Das Motto von Joseph Görres, Herausgeber des »Rheinischen Merkurs«, lautete noch: »den Pfuhl unseres öffentlichen Lebens ... sondiren bis zu seinem innersten und
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