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SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)

SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)

Titel: SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Augstein
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bekommt mehr?« Was da aber »staatliche Leistungen« genannt werde, sei ja in Wahrheit das Geld der Steuerzahler: »Es scheint in Deutschland nur noch Bezieher von Steuergeld zu geben, aber niemanden, der das alles erarbeitet. Empfänger sind in aller Munde, doch die, die alles bezahlen, finden kaum Beachtung. Die Mittelschicht in Deutschland ist in den vergangenen zehn Jahren von zwei Dritteln auf noch gut die Hälfte der Gesellschaft geschrumpft. Damit bröckelt die Brücke zwischen Arm und Reich. Eine Gesellschaft ohne Mitte fliegt auseinander, und der Politik fliegt sie um die Ohren.« Das war eine unerwartete und dreiste Wendung, die eines Sloterdijk würdig war: Westerwelle legte nahe, die Mitte schrumpfe wegen der Ausbeutung durch die Armen.
    Der Text war ein Musterbeispiel dafür, wie man die Armen gegen die Ärmeren ausspielen kann. Westerwelle rechnete vor: »Wer kellnert, verheiratet ist und zwei Kinder hat, bekommt im Schnitt 109 Euro weniger im Monat, als wenn er oder sie Hartz IV bezöge. Diese Leichtfertigkeit im Umgang mit dem Leistungsgedanken besorgt mich zutiefst.« Dieser in Zeilen gegossene Zynismus raubte einem fast den Atem. Denn wenn die Rechnung des Ministers stimmte, und warum sollte sie das nicht, wo lag dann der Skandal? Bei den Hartz-IV-Sätzen, die an der unteren Grenze des Existenzminimums entlangschrammen, oder bei den lächerlichen Gehältern, die inzwischen im Niedriglohnland Deutschland gezahlt und geduldet werden? Westerwelle jedenfalls schloss seine kühlen Betrachtungen mit der Bemerkung: »Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein.«
    Spätestens diese Formulierung hätte sein Pressereferent ihm besser rausgestrichen. Der Rest seine Textes entsprach so sehr dem inzwischen zum Mainstream gewordenen Fluss des systemstabilisierenden Denkens, dass es den meisten Menschen weiter nicht aufgefallen wäre. Der überraschende Vergleich mit dem alten Rom aber rüttelte eine Menge Leute aus ihrer neoliberalen Hypnose. Westerwelle wurde ordentlich durchgeschüttelt – was nun allerdings das Mindeste war, was sein »Dekadenz«-Vergleich verdiente. Dennoch fand er einen Verteidiger im Chefredakteur der »Zeit«, Giovanni di Lorenzo. Das war ein leises, aber bedeutungsvolles Zeichen dafür, wie sehr die Maschinen der öffentlichen Meinung ihre Produktion schon auf ein neues Programm umgestellt hatten: Sie vertiefen die soziale Spaltung und stanzen Verlierer zu Verantwortlichen. Di Lorenzos Leitartikel, den die »Zeit« am 18. Februar 2010 veröffentlichte, trug die Überschrift »Richtig im Falschen« und war mit folgenden Worten untertitelt: »Die Empörung über Westerwelles Tiraden zu Hartz IV darf kein Grund sein, einige Fehlentwicklungen zu verschweigen.«
    Di Lorenzo legte also gleich von Anfang an nahe, dass Westerwelle irgendwie danebengegriffen habe, der Begriff »Tirade« lässt auf einen falschen Ton schließen, den Westerwelle da erwischt habe. Es wird aber auch klargestellt, dass es in der Tat »Fehlentwicklungen« gebe, und zwar »einige«, die man nicht »verschweigen« dürfe. Das ist die intelligente Variante des »Das wird man ja noch sagen dürfen«.
    Tatsächlich beginnt der Artikel mit der Klarstellung, Westerwelles Einlassungen seien »im Ton unangemessen, ja für ein führendes Regierungsmitglied auch unerhört« – aber diese salvatorische Klausel dient dann nur dem Zweck, einem großen Aber den Weg zu ebnen. Nämlich der Frage nach dem »Ausmaß des Leistungsbetrugs«. Die Hälfte des Textes, der auf der ersten Seite der Zeitung erschienen war, beschäftigt sich damit. Der Autor nennt Daten: »Die Arbeitsagenturen greifen in nur 2,6 Prozent der Fälle zu Sanktionen, weil Bezieher offensichtlich an keiner Arbeit interessiert sind.« Nun ist das kein so besonders erschreckender Wert: 2,6 Prozent. Aber es ist offenbar die einzige zuverlässige Zahl, die zur Verfügung steht. Wenn man den Eindruck eines Problems erzeugen will, und das wollte die »Zeit«, dann gibt es zwei Möglichkeiten: Man kann die offizielle Zahl bezweifeln und man kann in den Bereich der Spekulation abdriften. Di Lorenzo macht beides: Es sei »die Vermutung ... nicht abwegig, dass zu weiteren Ermittlungen die Kapazität der überforderten Behörde gar nicht ausreichte oder die Verantwortlichen die unklare Rechtslage fürchteten«, schreibt er und bringt eine weitere, wie man sagt, namhafte Quelle: »Der ehemalige Wirtschaftsminister Wolfgang

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