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SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)

SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)

Titel: SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Augstein
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bürgerlichen Entgrenzung zum Faschismus.
    Heitmeyers letzte Studien aus den Jahren 2010 bis 2012 sprechen von einer »deutlichen Vereisung des sozialen Klimas« und von einer »rohen Bürgerlichkeit«. Heitmeyer sagte: »In der Selbstwahrnehmung der Vermögenden strotzen deren Biografien vor Effizienz, Nützlichkeit und Verwertbarkeit. Dazu kommen durch ihre Sozialisierung – etwa durch Abschottung, ihre Wohnlage – bestimmte Habitusmuster. Dazu gehört Gleichgültigkeit gegenüber Obdachlosen. Es gibt eine elitäre Parallelgesellschaft, in der ein eisiger Jargon der Verachtung herrscht und kaum Interesse an gesellschaftlichen Integrationsproblemen. Es gibt also keine Auseinandersetzung mit dem, was in unserer Gesellschaft geschieht. Es geht den Reichen bei ihrer Abschottung um die Sicherung ihres Status. Insofern gibt es sozusagen einen Klassenkampf von oben.«
    Heitmeyer sagte, dass er wenig Hoffnung auf Besserung habe: »In unseren Studien sagen 75 Prozent der Bürger, dass sich bei einer Bedrohung des eigenen Lebensstandards die Solidarität mit den Schwachen deutlich verringert. Dass Bemühungen um Gerechtigkeit besonders in Krisenzeiten erfolglos sind, sagen 60 Prozent. Dabei sind Fairness, Gerechtigkeit und Solidarität die Kernnormen für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft! Wenn eine derart große Zahl von Bürgern nicht mehr daran glaubt, dass diese zentralen Normen einzuhalten sind, gerät ein Land in Schieflage. Denn durch zunehmende Ungleichheit und eine Ideologie der Ungleichwertigkeit wird jede Gesellschaft zersetzt.«

08 DISKURS
    In der »Bild«-Zeitung hat der konservative Journalist Hugo Müller-Vogg eine Kolumne, die den Titel trägt: »Das wird man ja noch sagen dürfen.« Diese Wendung ist geradezu ein geflügeltes Wort, oder sagen wir ein struppig gefiedertes. Es ist die reine Essenz des Ressentiments. Es birgt in sich eine ganze Weltanschauung, klaustrophobisch in seiner spießigen Engstirnigkeit und maßlos ausgreifend in seinem allgemeinen Geltungsanspruch.
    Was ist das? Es gibt offenbar jemanden, der einem den Mund verbietet. Man kann nicht einfach sagen, was man will. Man muss sich das Recht nehmen. Man tut es gegen einen Widerstand. Die »Bild«-Zeitung hat eine Kampagne gemacht: »Jede Wahrheit braucht einen Mutigen, der sie ausspricht.« Auf geradezu geniale Weise beutete sie die dialektische Doppelbödigkeit dieser Aussage aus. Man kann das als Ausweis journalistischen Muts verstehen, oder eben als augenzwinkerndes Einverständnis mit all jenen, die das gesunde, aber geknebelte Volksempfinden entfesselt sehen wollen.
    Man kann getrost davon ausgehen: Wenn einer so redet, »das wird man ja noch sagen dürfen«, dann lügt er schon. Denn er weiß, dass er sagen kann, was er will. Er weiß, dass er kein Risiko eingeht. Er weiß, dass kein Tabu und kein Verbot ihn hindern und keine Strafe ihm droht. Hinter dem Satz, der scheinbar von einem aufklärerischen Impuls getrieben ist, verbirgt sich in Wahrheit das antiaufklärerische Ressentiment. Denn das, was man ja noch sagen dürfen soll, ist zumeist nichts als das Vorurteil. Und es gibt niemanden, der es verbietet, das Vorurteil zu verbreiten – außer Vernunft und Anstand. Wer diese Phrase nutzt, der will also zumeist Vernunft und Anstand hinter sich lassen und frei von der Leber weg reden – die früher als Zentrum der Gefühle galt und heute bekanntlich oft genug besonderen Belastungen ausgesetzt ist, wenn so geredet wird.
    Wer bindet den Knebel? Wer hindert das freie Sprechen? Wer sind denn die Türhüter der Debatten, die angeblich den Eingang zum Diskursraum versperren wollen?
    Sie haben einen Namen: Gutmenschen. Ein übles Wort, das eine sonderbare Bedeutungsverkehrung durchgemacht hat, an der sich nebenbei ganz hübsch die Risiken und Nebenwirkungen von Tabuverletzungen ablesen lassen. Im weiteren Umfeld der Neuen Frankfurter Schule brachten Klaus Bittermann und Gerhard Henschel Mitte der neunziger Jahre das »Wörterbuch des Gutmenschen« heraus. Ihnen ging es, wie es im Untertitel der ersten Ausgabe hieß, um »Betroffenheitsjargon und Gesinnungskitsch«, beziehungsweise, wie in einer späteren Ausgabe präzisiert wurde, um die »Kritik der moralisch korrekten Schaumsprache«.
    Es war die Zeit eines deutschen Aufbruchs. Man kann das im Rückblick wohl so sagen. Eine eigentümliche Befreiung auf allen Seiten fand da statt. Die führte nicht nur die Bundeswehr in eine nicht endende Reihe von Auslandseinsätzen, sondern auch

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