SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)
Sprache und Denken auf neue Wege und Abwege. Da wurde einiges abgeschüttelt, was offenbar schon lange drückte. Karl Heinz Bohrer rechnete 1992 im »Merkur« in einer kleinen Reihe mit der »deutschen Provinzialität« ab, die er so gerne hinter sich lassen wollte:
»Sie hat kein Organ für Ironie, für Zweideutigkeit, für Ambivalenzen. Die breiige Betulichkeit der bei uns vorherrschenden öffentlichen Sprache ist ja längst von dem Quartier, wo wir sie auch früher vornehmlich vermuteten, dem Kanzleramt, hinübergewandert zu einer gewissen Sorte von Intelligenz in Universität, Medien und Literaturbetrieb. ... In den Worten eines Liedes, das auf einem Kirchentag gesungen wurde: ›Ich hab Angst und du hast Angst, große Angst und kleine Angst, meine Angst und deine Angst ...‹ Wer dieses Lied als intellektuell und moralisch unsäglich bezeichnen wollte, der müsste solchen Leuten sofort beteuern, daß er natürlich auch gegen Krieg und Umweltverseuchung sei. Verzichtete er auf solch eine Versicherung, zur Partei der Guten zu gehören, sei es nun aus Stolz oder sei es ganz einfach aus der Logik, dass diese Versicherung mit der Einschätzung jenes Polit- oder Religionskitsches gar nichts zu tun habe, der würde bei der vorherrschenden öffentlichen Diskursmentalität zum Unhold erklärt.« Bohrer stellte sich vor, dass der »Merkur«, dessen Herausgeber er war, ein »Wörterbuch des Gutmenschen« anlegen könnte, um diese »breiige Betulichkeit« mal systematisch zu sammeln. Dieses Wörterbuch hätte also Einträge wie »die Mauer im Kopf niederreißen« oder »Streitkultur« oder »Querdenker« gekannt: »Jenes sich Abduckende, Neutralisierende, was dem durchschnittlichen westdeutschen Tonfall sein neurotisches Moment, jenen Mangel an wirklichem Ausdruck gibt, jene Angst vor Genauigkeit und die Flucht ins Vermittelnde.« Was Bohrer in der öffentlichen Rede vermisste, waren Kraft und Schärfe und Präzision und Wut und die Bereitschaft, Risiken einzugehen. Rein sprachlich. Da rumorte in diesem Konservativen die gleiche Sehnsucht, die auch Sloterdijk Jahre später noch umtrieb, nach mehr Thymos eben, Mut und Stolz. Mehr vom »glücklichen Bellizismus«, wie Sloterdijk ihn in der Illias gefunden hat, mehr von dem, was Nietzsche das »Apollonische« nannte. Bei der Thymotisierung geht es darum, den Einsatz zu erhöhen, aus der Sicherheitszone auszubrechen. Das Problem ist nur, dass Mut und Stolz am Ende immer Opfer verlangen, ohne Blutvergießen geht das nicht ab, rein sprachlich. Und die Opfer, das sind dann die Migranten, die Sozialhilfeempfänger und das ganze faule Pack, das dem Sozialstaat auf der Tasche liegt – was man ja wohl noch sagen darf.
Bohrer hat ein solches Lexikon dann nicht gemacht, aber Henschel und Bittermann brachten es heraus. Das war kein Scherz, sondern Ausdruck einer kulturpolitischen Umwälzung, einer echten Revolution. »Sehr unterschiedliche Meinungskräfte, denen es um ernsthafte Auseinandersetzung und nicht um flaumweich sozialdemokratische Streitkultur-Surrogate geht, sind zu Beginn der 90er Jahre damit befasst, die Gartenlauben des Gutmenschen zu belagern«, schrieb Henschel im Vorwort. Er zählte sodann auf, wen er meinte: Rechtskonservative, Linksradikale, Wirtschaftsliberale »und die Autoren dieses Buches«. Und obwohl sich die Autoren an »mehr oder weniger linke Menschen« wandten, reihten sie sich also in eine sonderbare Allianz ein, die ein angeblich allgemeines, höheres Interesse verfolge: den Kampf gegen das mutlose Sprechen. Da fanden sich ein so unschuldiges Wort wie »Glaubwürdigkeit« neben leichtintellektueller Halbfertigware wie »verkrustete Strukturen aufbrechen« und »die Mauer im Kopf einreißen«. Aber – und das war vielleicht ganz kennzeichnend – auch das Wort »Hoffnung« stand auf dem Index der Worthülsenstürmer.
Von links und von rechts wurde damals an den Fesseln gezerrt, die der Sprache angelegt worden waren. Das Korsett wurde gelockert. Es kam mehr Luft rein. Aber die Form ging verloren. Es dauerte nur ein paar Jahre, bis das Wort vom »Gutmenschen« von seinem Ausgangspunkt einmal genau ans andere Ende des politischen Ereignishorizonts gewandert war und dort hängen blieb. Heute haust es in den Netzforen und Chatrooms der Islamhasser und Hartz-IV-Verächter, und kein »mehr oder weniger linker Mensch« würde auf die Idee kommen, dieses Wort heute noch in den Mund zu nehmen.
Der Zyniker sieht sich vom Gutmenschen bedroht. Anders ist die Wut
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