SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)
Clement jedenfalls, der es eigentlich wissen müsste, sprach von 20 Prozent, die zu Unrecht Leistungen bezögen.«
Das hat Gewicht, dieses »der es eigentlich wissen müsste.« Aber wovon ist da die Rede? Di Lorenzo bezieht sich vermutlich auf eine Äußerung Clements vom Juni des Jahres 2005. Damals stand die unerwartet anberaumte Bundestagswahl bevor, und es ging um die Frage, wie viele Arbeitslose es in Deutschland eigentlich gebe. Clement sagte, die offiziellen Zahlen müssten vermutlich nach unten korrigiert werden, wofür er eine Reihe von Gründen nannte: So würden Kranke oder Schüler durch Behördenirrtümer als erwerbsfähig registriert, und es gebe auch Bürger, die sich Leistungen zu Unrecht erschlichen. Etwa 20 Prozent, sagte Clement damals, seien vermutlich »nicht arbeitslos im Sinne des Gesetzes«. Das klingt irgendwie ganz anders, als der Chefredakteur der »Zeit« es ein paar Jahre später verwendet hat. Aber wenn man noch ein bisschen weiter recherchiert, dann fällt auch dieses im Wahlkampf gesagte Clement-Wort ganz und gar in sich zusammen. Denn der ein Jahr später veröffentlichte Arbeitsmarktbericht für das Jahr 2005 stellte fest, dass die Zahl der Missbrauchsfälle unter denen des Jahres 2004 gelegen hatte.
Die Sache wird auch durch den dritten Wert nicht besser, den di Lorenzo als Beweis für sein Argument gegen die Armen anbringen will. Er schreibt: »Und gelegentlich finden sich Mitarbeiter von Jobcentern, die anonym das Ausmaß des Betrugs in ihrem eigenen Beritt als noch größer beschreiben.« Was soll man dazu sagen? Zweifellos wird es Mitarbeiter in den Jobcentern geben, die das sagen. Ob aber solche Gerüchte als Stütze für einen sozial- und gesellschaftspolitischen Meinungsartikel dienen sollten, ist eine andere Frage.
Die Überlegung, die der »Zeit«-Chef dann anstellte, sorgte dafür, dass dieser Artikel über den Tag hinaus im Gedächtnis blieb: »Es gibt eine weitere alarmierende Zahl, deren Erörterung aus Angst, noch ganz andere Ressentiments zu wecken, besonders schwerfällt: Nach einer vom Bundesarbeitsministerium erst vor drei Monaten veröffentlichten Studie sind Migranten und ihre in Deutschland geborenen Nachkommen doppelt so häufig auf Sozialhilfe angewiesen wie der Rest der Bevölkerung. Dies ist einerseits dadurch zu erklären, dass sie wegen ihrer oft geringen Qualifikation wenig Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Andererseits aber drängt sich der Verdacht auf, dass unser in Deutschland so angefeindetes Sozialsystem immer noch attraktiv genug ist, dass es eine massenhafte Einwanderung in die sozialen Netze auslöst – was das Prinzip der Einwanderung, in einem fremden Land durch eigener Hände Arbeit sein Glück zu finden, auf den Kopf stellte.«
Es ist ein bewährtes Mittel, das Ressentiment zu schüren, indem man erst davor warnt – und es dann schürt. Die Worte von der »massenhaften Einwanderung in die sozialen Netze« wurden jedenfalls als eine Formulierung des Vorurteils verstanden. Als die Redaktion in einer der folgenden Ausgaben die Leserbriefseite zusammenstellte, setzte sie dieses Schreiben an den Anfang: »Mutig, Herr di Lorenzo! Die Gutmenschen in der ZEIT-Leserschaft werden nächste Woche auf der Leserbriefseite aufschreien.« Da waren sie wieder, die Gutmenschen, die angeblich aufschreien, die mit ihrem Rufen die Stimme der Vernunft übertönen wollen, die doch nur Wahrheiten ausspricht, »die man ja wohl noch sagen darf«.
Das Problem war nur, wie so oft, dass solche Töne hohl klingen. Spätestens seit der Novelle des Aufenthaltsgesetzes von 2007, als der Familienzuzug von einem gesicherten Unterhalt abhängig gemacht wurde, wäre ein großer Teil der von di Lorenzo befürchteten Einwanderung gar nicht mehr möglich gewesen. Abgesehen von der Rechtslage gab es aber zu Beginn des Jahrzehnts ohnehin nicht nur keine massenhafte Einwanderung – sondern unter dem Strich gar keine Einwanderung. Zwischen 1998 und 2010 war das Wanderungssaldo nämlich negativ. Für die deutsche Wirtschaft, der schon damals langsam die Arbeitskräfte ausgingen, waren das schlechte Nachrichten. Das war übrigens auch der Grund, warum der damalige Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle über ein Begrüßungsgeld für qualifizierte Fachkräfte aus dem Ausland nachdachte.
Gab es also keinen Missbrauch unter Hartz-IV-Beziehern? Natürlich gab es den. Gab es keinen Missbrauch von Sozialleistungen durch Migranten? Natürlich gab es auch den. Sollte man sich
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