SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)
Ruf nach mehr! Denn wenn Wikileaks rechtzeitig die Lügen des Pentagon über die vermeintliche Bedrohung durch Saddam Hussein aufgedeckt hätte – der Irakkrieg mit seinen zahllosen Toten hätte nicht geführt werden können.
Aber jene Kollegen, die die Wikileaks-Veröffentlichungen unter dem Gesichtspunkt der Legalität sahen, wurden dazu ja nicht gezwungen. Sie taten das freiwillig. Sie machten sich Sorgen um die Stabilität des Systems. Nicht um seine Kritik. Diese Journalisten sollten den schwer zu übersetzenden Rat von Lucy McClane aus »Die Hard 4« beherzigen: Dig deep for a bigger set of balls . Man darf mit Blick auf den medialen Mainstream bezweifeln, dass sie das tun – oder fündig werden.
Wikileaks war bei den Mächtigen und ihren Medien auf so viel Feindschaft gestoßen, weil es sich der institutionalisierten Kontrolle entzog und dennoch ungeheuer wirksam war. Kein Wunder, dass Wikileaks-Gründer Assange gleichsam als Terrorist galt und seine Enthüllungen als digitales Äquivalent zu den Angriffen vom 11. September 2001 verstanden wurden. Wikileaks spürte den kalten Systemwind von vorn: Assange in Haft, die Geldströme beschnitten, der Netzzugang erschwert. Es ist ein hartes Geschäft, mit den Mitteln der Öffentlichkeit das Anliegen der Gegenöffentlichkeit zu betreiben. Die Fremdheit, von der Gay Talese spricht, hat einen Preis. Man sollte sich da keine Illusionen machen. Denn in Gestalt von Wikileaks hatten die Kräfte der Aufklärung nicht nur den Staat gegen sich, der an Aufklärung gar kein Interesse hatte, sondern auch Teile der Medien, denen es ebenso ging.
Man sollte sehr hellhörig werden, wenn Journalisten anfangen, sich auf ihre Verantwortung zu berufen. Sie haben nur eine einzige: der Wahrheit gegenüber. Alles andere geht sie nichts an. Journalisten sind für die Landesverteidigung nicht zuständig und für die Stabilisierung des Kapitalismus auch nicht, das Überleben einer bestimmten Bundesregierung sollte ihnen ebenso gleichgültig sein wie der deutsche Außenhandelsüberschuss.
Andernfalls geraten sie in Teufels Küche. Die mag einem warm und behaglich vorkommen. Aber, um mal im Bild zu bleiben, einen so langen Löffel haben die wenigsten Journalisten, dass sie sich mit dem Teufel unbeschadet zu Tisch setzen könnten. Wenn Journalisten ihre Unabhängigkeit verlieren, werden sie zu Dienern. Zu Staatsdienern. Solche Journalisten braucht kein Mensch.
Wir sind Zeugen einer Revolution. Wir leben mittendrin. Wir treiben sie selber voran. Und wir werden von ihr getrieben. Das neue Internet Protocol Version 6 erhöht die Zahl möglicher Netzadressen auf 2 hoch 128. Information, Wert, Freiheit, Individualität, Zukunft – diese Begriffe bekommen unter solchen Umständen eine neue Bedeutung. Das geschriebene Wort wird entwertet, sagt der Computerforscher David Gelernter: »Wenn wir eine Million Fotos besitzen, ist für uns jedes einzelne weniger wert, als wenn wir nur zehn besäßen.« Genau so sei es mit der Sprache. Das Internet überschwemmt die Welt mit Texten, das geschriebene Wort verliert an Wert. Es wird sorgloser geschrieben, nachlässiger redigiert und schneller gelesen: »In dem Maße jedoch, in dem von Mal zu Mal die Zeit, die sowohl der Autor als auch der Leser einem Text widmen, immer knapper wird, verfällt auch die Fähigkeit einer Gesellschaft, sich im geschriebenen Wort zu verständigen. Diese Bedrohung unserer Fähigkeit, zu lesen und zu schreiben, gefährdet langsam, aber sicher den Fortbestand von Wissenschaft, Gelehrsamkeit und Kunst – in Wahrheit aller Eigenschaften, die den Menschen ausmachen und ihn von Bisamratten und Delphinen unterscheiden.«
Das Schicksal der Medien und des Journalismus wird von dieser Revolution ebenso ergriffen wie der Rest unseres Lebens, unserer Kultur, unserer Gesellschaft. Daran sind nicht die Journalisten schuld. Damit müssen sie sich arrangieren. Aber Journalisten wären besser beraten, diesen Wandel, der ihre Rolle in Frage stellt, der ihre Existenzgrundlage gefährdet, nicht noch zu beschleunigen, indem sie sich selber überflüssig machen.
Wenn der Journalismus seine Aufgabe nicht mehr in der Kritik sieht, ist er nahe daran, sich überflüssig zu machen. Das ist jedenfalls eine legitime Sicht der Dinge. Es gibt eine andere Sicht der Dinge, nach der im Wandel der Öffentlichkeit diese Frage bereits irrelevant geworden ist. Die Affären Wulff und zu Guttenberg mag man als Zeichen in diese Richtung verstehen. Da gingen
Weitere Kostenlose Bücher