SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)
politische Körper. Frankreich verfügt über eine intakte Empörungsfähigkeit. Auch in Deutschland gibt es neuerdings wieder eine Empörung. Aber wir werden sehen, welcher Art sie ist. Und wir werden feststellen, dass sie schnell in Verdacht gerät, bei Linken und Konservativen gleichermaßen. Es findet jeder immer einen Grund, warum ihm ein Protest nicht passt. Und sei es nur eine allgemeine Schlechtlaunigkeit angesichts des Engagements der anderen. So wie beim Publizisten Wiglaf Droste, der die Empörung ein kostenloses Vergnügen von Wichtigtuern nannte. Aber Droste hatte ja schon im Wörterbuch des Gutmenschen tatkräftige Hilfe beim Abbau von Sinnstiftung geleistet.
Im Fall Wulff konnte man die Empörung der Journalisten tatsächlich von einer anderen Seite kritisieren. Jan Fleischhauer schrieb dazu diesen bedenkenswerten Satz: »Ein Franz Josef Strauß hätte es unter den herrschenden Moralnormen nicht einmal zum Kreisvorsitzenden gebracht. Wer das als Fortschritt betrachtet, sollte sich auch nicht beklagen, wenn seine Abgeordneten dann wie Buchhalter reden.« Das stimmt natürlich. Zumal wir mit einem wie Wulff ja gleich doppelt schlecht bedient waren, weil er mit Strauß nur noch die Neigung zum Geld gemeinsam hatte, aber weder Intelligenz noch Charisma. Ihre Kleinheit zeigten die Guttenbergs und Wulffs ja nicht in ihren Vergehen – denen in der Tat das Zeug zum großen politischen Skandal fehlte –, sondern erst danach, in ihrem Verhalten nach der Entdeckung. Guttenberg bestritt bis zuletzt, ein Plagiat begangen zu haben, und Wulff räumte immer gerade so viel ein, wie man ihm nachweisen konnte. Solche Politiker zerstören ihre Glaubwürdigkeit und überhaupt ihre Würdigkeit nicht durch die Tat, sondern nach der Tat.
Eigentlich ging es bei Wulff aber nur um die Frage, ob sich ein Präsident an die Gesetze halten soll. »Vielleicht wird ja von einem Bundespräsidenten viel zu viel erwartet«, schrieb Heribert Prantl: »Das Amt ist Projektionsfläche für viele Sehnsüchte – nach Lauterkeit, Ehrlichkeit und Vorbildlichkeit in der Politik. Das ist viel verlangt, vielleicht zu viel.« Aber man konnte durchaus der Auffassung sein, dass jene Journalisten nicht zu viel verlangten, die gerne einen anständigen Bundespräsidenten gehabt hätten. Jenseits aller überkomplizierten Metadebatten über Gesellschaft und Werte und Politik war die Sache am Ende nicht so schwierig: Ein Präsident soll sich an das Gesetz halten und ein bisschen Stress abkönnen. Das ist die durchaus überschaubare Mindestanforderung an das Amt. Einer, der das Parlament anlügt und Journalisten am Telefon bedroht, erfüllt diese Mindestanforderung nicht. Wie kann es sein, dass wir darüber überhaupt diskutieren mussten?
Aber wir mussten. Die Journalisten mussten feststellen, dass in den Foren des Internets die »Jagd auf Wulff« als Kampagne der Medien gegeißelt wurde: »Pressefreiheit verkommt zum Spektakel«, schrieb ein Zeitungsleser im Netz. Oder: »Wenn bestimmte Medien eine solche Macht entwickeln können, dass schon von der 2. Macht im Staate die Rede sein kann, dann könnten wir auch mal darüber nachdenken, Medien mit ähnlichen gesetzlichen und verfassungsrechtlichen Auflagen zu belegen wie den Staat.« Oder: »Breitbeinig Verhaltensweisen einzufordern, ohne sie selbst an den Tag zu legen und dafür die Generalabsolution ›Wir sind nur Journalisten, keine Politiker‹ vorzubringen, gleichzeitig aber eine derartige Macht auf sich zu vereinen, dass die Organe der Gewaltenteilung ihre Aufgaben ohne sie oder gegen sie kaum ausführen können – das alles ist höchst problematisch, wenn nicht sogar demokratiegefährdend.«
Vor allem die Rolle der »Bild«-Zeitung stieß den Lesern unangenehm auf. Ihnen entging nicht die Bigotterie, die darin lag, dem Präsidenten die berüchtigte Salamitaktik vorzuwerfen – und sie in der scheibchenweisen Veröffentlichung des vorliegenden Materials selber zu verfolgen. Das Problem war nur: Der Fall Wulff war zum Fall erst durch die Recherchen der »Bild«-Zeitung geworden. In dem Maße, in dem die anderen Zeitungen sich des Themas annahmen – und wie hätten sie das nicht tun können? –, mussten sie sich in das Gefolge von »Bild« begeben. Mit verheerendem Effekt auf die Leser, wie dieses Zitat zeigte: »Und so nimmt diese ganze ›Berichterstattung‹ die Form einer absurden Hetzkampagne an, und man bekommt selbst das Gefühl, von ›Bild‹ vor den Karren gespannt zu
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