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SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)

SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)

Titel: SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Augstein
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nach Rücktritt die letzte Illusion der Einflussnahme sei, die dem entmachteten Souverän bleibe. Aber wenn die Glut einmal ganz verloschen ist, mag der Souverän nicht mal mehr nach Rücktritt rufen. Wozu auch? Es wäre die Aufgabe der Regierung, die Menschen vom Gegenteil zu überzeugen. Aber Merkels Regierung hat sich vier Jahre lang immer mühsamer von einer Affäre zur nächsten geschleppt und sich gegenüber den Fragen der politischen Moral als sehr flexibel erwiesen.
    Seit ihrem Amtsantritt verbrauchte diese Regierung mehr politische Substanz, als sie erzeugte. Das galt für die katastrophale Euro- und Europapolitik, für den deutschen Sonderweg in Libyen und für das innenpolitische Sittenbild einer gar nicht bürgerlichen Regierung, in der sich Selbstbediener und Lügner die Klinke in die Hand gaben. Die Wehrpflicht wurde abgeschafft, aber im konservativen Lager gelten die besten Tugenden junger Bundeswehrrekruten: Tarnen (Christian Wulff), Täuschen (Karl-Theodor zu Guttenberg, Annette Schavan) und Verpissen (Horst Köhler, Ole von Beust, Roland Koch). Merkel und ihre Männer schöpfen aus einem politischen und moralischen Reservoir, das andere vor ihnen gefüllt haben. Unerschöpflich ist dieses Reservoir nicht.
    Wenn die Politik versagt, wenn die Medien unzuverlässig sind, muss sich die Zivilgesellschaft ihrer selbst bewusst werden. Sie muss feststellen, dass sie sich den Spott ebenso wenig leisten kann wie die Verzweiflung. Beides ist ein Luxus, der darauf setzt, dass ein anderer schon tragen wird, was weder der Witzbold noch der Weinerliche länger schultern mag: die Verantwortung. Da wollen sich dann welche etwas nicht mehr weiter zurechnen lassen. Und rechnen gleichzeitig damit, dass einer die Zeche schon zahlen wird. Dass sie selber am Ende zahlen, aber anders als gedacht, merken solche Verantwortungsflüchtlinge immer erst zu spät. Wir kommen weiter unten zum größten Problem jener Denkweise: Sie scheut vor den Freiheitsmöglichkeiten des eigenen Handelns zurück.
    Und sie ist offenbar jederzeit bereit, die Entscheidungen jener zu diskreditieren, die sich ihrer Freiheit bedienen. Anders ist ja gar nicht zu erklären, mit wie viel Häme und Spott und Verachtung dem Phänomen des sogenannten »Wutbürgers« in den Medien begegnet wurde. Das begann schon mit dem »Spiegel«-Essay von Dirk Kurbjuweit aus dem Oktober 2010. Kurbjuweit erfand das Wort. Und das ist für einen Journalisten eine der schönsten Sachen der Welt, ein Wort zu erfinden. Wörter sind wertvoll. Und treffende Wörter sind um so wertvoller. Aber Kurbjuweit erfand das Wort nicht, um dem Wutbürger ein Denkmal zu setzen, sondern ein Schandmal. Der Wutbürger wurde lächerlich gemacht in dem Augenblick, da er das Licht der Welt erblickte: »Der Wutbürger buht, schreit, hasst. Er ist konservativ, wohlhabend und nicht mehr jung. Früher war er staatstragend, jetzt ist er zutiefst empört über die Politiker.« Kurbjuweit war entschlossen, den Wutbürger fertigzumachen. Denn er packte die Anhänger des Populisten Sarrazin in den gleichen Wutbürgersack wie die Gegner des Stuttgarter Pharaonenbahnhofes, band den Sack zu und schlug dann ordentlich darauf herum. Ihm sei schon klar, schrieb Kurbjuweit, dass es Unterschiede zwischen den Bahnhofsbürgern und den Sarrazinisten gebe. Die interessierten ihn aber nicht so wie die Parallelen: »Es geht jeweils um Zukunftsvergessenheit. Der Wutbürger wehrt sich gegen den Wandel, und er mag nicht Weltbürger sein. Beide Proteste sind Ausdruck einer skeptischen Mitte, die bewahren will, was sie hat und kennt, zu Lasten einer guten Zukunft des Landes.«
    Was Stuttgart angeht, hatte Kurbjuweit die Bilder der tatsächlich sehr wütenden Demonstranten vor Augen: wie sie da im Schlossgarten versuchten, die Bäume zu schützen, die für den Tiefbahnhof fallen sollten. Das waren keine Berufsdemonstranten oder gewohnheitsmäßigen Staatsverächter oder überhaupt irgendwelche üblichen Verdächtigen, wie man das von früher gewohnt war, als man jeden Demonstranten erst mal getrost als Kommunisten beschimpfen konnte. Das hier waren Stuttgarter Bürger, CDU-Wähler, durchaus gesetzte Herrschaften, die nicht wollten, dass mitten in ihrer Stadt der alte Bahnhof abgerissen, die Bäume gefällt und tiefe Löcher gegraben werden. Und das war kein Spaß. Der deutsche Staat ging gegen diese Demonstranten auch nicht anders vor, als er das in der Vergangenheit in Wackersdorf oder an der Startbahn West getan hatte: mit

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