SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)
aller Härte. Aus der ganzen Republik waren Polizisten gekommen, um den Leuten ihre »Zukunftsvergessenheit« auszutreiben. Und die Stuttgarter Bürger lernten ihren Staat einmal von einer ihnen bis dahin ganz unbekannten Seite kennen.
Im Netz konnte man damals lesen, dass unter den Demonstranten auch der Krimi-Autor Wolfgang Schorlau war. Er habe so etwas noch nie erlebt, sagte er, wie die Polizei gegen Schüler vorgehe: »Ein Beamter hat einer etwa 15-Jährigen mit voller Wucht ins Gesicht geschlagen.«
Der Ingenieur Dietrich Wagner, der zu diesem Zeitpunkt 65 Jahre alt war, wurde von einem Wasserwerfer ins Gesicht getroffen. Aus beiden Augen blutend, wurde er von anderen Demonstranten vor der Polizei in Sicherheit gebracht. Das Bild wurde zu einem Fanal des Stuttgarter Aufstands. Wagner ist seit diesem Tag annähernd blind.
Die Unverhältnismäßigkeit dieses Einsatzes stand außer Frage. Das war kein gewaltbereiter Schwarzer Block, der sich da in den Stuttgarter Straßen zusammengerottet hatte – es waren buchstäblich alte Leute und Kinder, die von einer gereizten Staatsmacht zusammengeschlagen worden waren. Das konnte man auch alles so in der Zeitung lesen und sich im Fernsehen angucken. Dennoch begegnete die deutsche Öffentlichkeit dem Protest gegen Stuttgart 21 sonderbar verhalten. »Spiegel«-Autor Kurbjuweit gab die bundesweite Stimmung in seinem Essay geradezu vor: »Deutschland wird erstarren, wenn sich allerorten die Wutbürger durchsetzen.« Das war nämlich die Sorge: Wo enden wir, wenn jeder mitreden will und blockiert, was ihm nicht passt? Angela Merkel sah das auch so, als sie ihrer Befürchtung Ausdruck verlieh, »dass wir große Infrastrukturprojekte in diesem Land nicht mehr hinbekommen«. Der Journalist Gerhard Matzig schrieb sogar ein ganzes Buch gegen das Wutbürgertum: »Einfach nur dagegen. Wie wir unseren Kindern die Zukunft verbauen«. Matzig zitierte George Bernard Shaw: »Alte Männer sind gefährlich. Ihnen ist die Zukunft gänzlich gleich« und erklärte den demokratischen Protest kurzerhand zum demographischen Phänomen: Hier könnten wir die Zukunftsangst einer alternden Gesellschaft beobachten. Vom Erfolg der Idyllenpostille »Landlust« bis zu den »Guten Dingen« von Manufactum sah Matzig überall Anzeichen von Zukunftsangst.
Es waren Konservative, die sich in eine linke Protestkultur einreihten. Das stellte an die Flexibilität der deutschen Medien- und Politiköffentlichkeit zu hohe Anforderungen. Es war kurios zu beobachten, wie dieser neue Bürgerprotest weder auf der konservativen noch auf der linken Seite mit Wohlwollen begrüßt wurde. Denn so war es ja: Auch bei den Linken gab es angesichts des Wutbürgertums viel mürrische Häme.
Darum mochten sich die Konservativen mit dem Stuttgarter Protest nicht anfreunden, obwohl dessen Träger eigentlich aus dem konservativen Lager kamen. Und das wiederum war der Grund, warum der Protest auch bei den Linken im Land eher reserviert aufgenommen wurde: um Gottes willen keine Solidarität mit wohlhabenden Bürgersleuten, die sich durch eine Riesenbaustelle nicht die Aussicht ihrer auf den Hügeln der Stadt liegenden Luxusvillen verderben lassen wollten. Hermann L. Gremliza, von schräg-linksaußen kommend, hätte den Stuttgartern am liebsten ein Demonstrationsverbot erteilt, weil sie sich in der Vergangenheit nicht durch ein Leben im Widerstand die Lizenz zum Protest erarbeitet hatten: »Nein, sie haben nie demonstriert, nicht gegen Kriege und Berufsverbote, nicht gegen die Plutoniumwirtschaft, nicht gegen prügelnde Bullen, nicht gegen Faschisten, nicht gegen die jüngsten Rassenlehrer. Sie haben den Nazi Filbinger als ›Landesvater‹ verehrt, den Meyer-Vorfelder, der Baden-Württembergs Schüler ›Deutschland, Deutschland über alles‹ auswendig lernen ließ, als Kultusminister gern gesehen, sie haben beider Erben, den Oettinger und den Mappus, zu Ministerpräsidenten gewählt.«
Die deutsche Öffentlichkeit zeigte im Umgang mit Stuttgart 21 einige wahrhaft unschöne Reflexe und Mechanismen, die tief blicken ließen – und es war keine gute demokratische Kultur, die da zum Vorschein kam. Zur demokratischen Kultur gehört nämlich auch der Protest. Aber in Stuttgart konnte man sehen, wie der in Deutschland sogleich verdächtigt wird, von links und von rechts.
Da war es von geradezu sympathischer Offenheit, dass der »Spiegel«-Autor Kurbjuweit sich schon aus ästhetischen Gründen am Wutbürger stieß – er lässt
Weitere Kostenlose Bücher