SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)
wenig Ausdauer, wenig Solidarität und wenig Mitsprache. Muss man sich die Franzosen so vorstellen wie die im fortwährend freundschaftlichen Streit liegenden Gallier aus den Asterix-Geschichten? Normalerweise geht es im zeitgenössischen französischen Widerstand darum, die Regierung in die Knie zu zwingen, nicht darum, sie abzulösen. Baroud d’honneur nennt man das in Frankreich, einen Kampf um die Ehre, nicht mehr.
Aber die Ehre ist schon eine Menge. Nehmen wir den Streik und die Demonstrationen aus dem Jahr 2010. Im Herbst protestierten damals Hunderttausende Franzosen gegen die geplanten Veränderungen am Rentengesetz. Straßen wurden blockiert, Raffinerien stillgelegt. Die Kosten der Streiks und Blockaden für die Volkswirtschaft wurden auf zwei bis vier Milliarden Euro geschätzt. War es das wert?, kann man fragen. Weil die Raffinerien danach ja ihre Produktion wieder aufnahmen und die neuen Rentengesetze doch in Kraft traten. Weil also der Streik nichts bewirkt hat. Hat sich das also gelohnt? Natürlich hat es sich gelohnt. Es war ein Akt der Selbstvergewisserung. Und es war eine Übung. Ein Training für den Notfall. Für den demokratischen Notfall, in dem Widerstand Pflicht wird. In Deutschland denkt man gar nicht mehr in solchen Kategorien. Wissen wir noch, wie man ein Benzindepot lahmlegt? Die Fähigkeit zur Aktion, wir kommen darauf noch zu sprechen, ist wichtig.
»Was bedeutet es, links zu wählen?«, fragte der Leitartikler der »Libération« nach Hollandes Wahl: »Es bedeutet, zu sagen, dass es trotz des Individualismus der gegenwärtigen Gesellschaft ein Wir gibt. Dass Ideen wie Gerechtigkeit, Gleichheit, Teilhabe und Solidarität im öffentlichen Leben verwirklicht werden können und müssen.« Es geht um die Lebendigkeit des Symbols und die Lebendigkeit der Phantasie.
Der Tatsachenmensch wird auf das unter Hollande steigende französische Haushaltsdefizit verweisen und auf François Mitterrand: Dessen Experiment des »Sozialismus in einem Land« musste nach drei Jahren abgebrochen werden, weil die Kapitalmärkte den Franc unter Druck setzten. Also frohlockte noch vor der Wahl Hollandes eine deutsche Zeitung: »Es leben die Ratingagenturen! Sie werden Frankreich auf Sparkurs halten, egal wer die Präsidentenwahl gewinnt.« Das ist der böse Zynismus der Hoffnungslosen.
»Politische Moral bildet sich im Zustand der Empörung«, sagt Oskar Negt. Wo landen wir, wenn wir auf unsere Empörungsfähigkeit verzichten? Wir hören dann auf, uns gegen die Entwürdigung zu stellen, die in den Verhältnissen liegt. Darum geht es bei der Empörung: um die Würde. Im Wort von der Indignation wird das deutlich, wie man die Empörung früher auch nannte. Darin ist zugleich die Unwürdigwerdung und das Entrüsten darüber enthalten.
»Indignez-vous« hatte Stéphane Hessel sein berühmt gewordenes Pamphlet genannt, »Empört euch!«. Oder eben auch: Werdet euch eurer eigenen Entwürdigung bewusst und wehrt euch dagegen. Was für ein Aufruf! Den hätten in Deutschland weder die Spötter noch die Verzweifelten hinbekommen. Die einen graben sich durch flotte Sprüche das Wasser ab, bevor es beim Gedanken ankommt. Bei den anderen ist die Wut zu einer trockenen Kälte erstarrt, aus der nichts Lebendiges mehr wachsen wird.
Mit welch junger Kraft kamen dagegen die Gedanken des alten Mannes aus Frankreich daher: »93 Jahre. Das ist ein bisschen wie die letzte Etappe. Das Ende ist nicht mehr fern.« Mit diesen Worten begann der schmale Text, der zuerst das Hexagon aufwühlte und dann den Rest des Kontinents. Stéphane Hessel war Diplomat und Dichter. Seine Schrift war kein Ruf an die Waffen. Hessel hatte das KZ Buchenwald überlebt, er hasste die Gewalt. Aber es war ein Aufruf zum Kampf. »Für eine Gesellschaft, auf die wir stolz sein können«, schrieb Hessel. Stolz ist ein wichtiges Wort im Leben der Nationen. Die Leute wollen stolz sein auf ihr Land. Und natürlich hat eine Gesellschaft eine Ehre, die sie gegen andrängende Zumutungen verteidigen muss. Die würdige Gesellschaft, sagte Hessel, sei diese: »Das Interesse der Allgemeinheit soll über dem Interesse des Einzelnen stehen, die gerechte Verteilung der Früchte der Arbeit soll wichtiger sein als die Macht des Geldes.«
Hessels Heft lag in Frankreich an den Zeitungskiosken neben der Kasse. Die Leute kauften es wie verrückt. Die Schrift eines Greises, der sie an ihr Gewissen erinnerte. An ihre Werte. Und der sie zur Empörung aufrief gegen ein System, in
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