SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)
dem Gewissen und Werte wenig zählen.
Die Auflage von Hessels Schrift war für französische Verhältnisse so hoch wie die Auflage des unseligen Sarrazin-Buches. Auch dieses Buch handelte ja von der Sorge um die Gesellschaft. Auch diesem Buch lag eine Empörung zugrunde. Darin erschöpfen sich dann aber auch die Parallelen zwischen Thilo Sarrazin und Stéphane Hessel.
Der Deutsche empörte sich über die Ausländer: »Ich möchte nicht, dass das Land meiner Enkel und Urenkel zu großen Teilen muslimisch ist, dass dort über weite Strecken Türkisch und Arabisch gesprochen wird, die Frauen ein Kopftuch tragen und der Tagesrhythmus vom Ruf der Muezzins bestimmt wird. Wenn ich das erleben will, kann ich eine Urlaubsreise ins Morgenland buchen.« Der Franzose empörte sich über Ungerechtigkeit: »diese Gesellschaft der rechtlosen Ausländer, der Abschiebungen und des Generalverdachts gegenüber den Einwanderern, (...) diese Gesellschaft, in der die Renten unsicher werden, der Sozialstaat abgebaut wird und die Medien in den Händen der Reichen liegen, alles Sachen, die wir niemals akzeptiert hätten, wenn wir die wahren Erben der Résistance wären.«
Hessel gründete seinen Appell auf die Werte des französischen Widerstandes gegen die deutschen Besatzer. Wenn er sich um Frankreichs Zukunft sorgt, geht es um Gerechtigkeit. Sarrazins Sorge um die Zukunft Deutschlands drehte sich um Geld und Gene.
Die deutschen Zeitungen berichteten mit einer gewissen Zurückhaltung über Hessels Buch. Die Ehrfurcht vor einem, der aus dem KZ entkommen war, der an der Charta der Menschenrechte der Vereinten Nationen mitgearbeitet hat, verbietet Spott und Häme. Aber an ein so ungebrochenes Pathos wie das des alten Mannes ist unsere Öffentlichkeit nicht gewöhnt. Wir haben uns, wenn hierzulande das Thema Ungerechtigkeit aufkommt, an dystopische Visionen à la Sarrazin gewöhnt, an zynische Witze oder an teilnahmsloses Achselzucken. Hessel aber schenkte seinen Lesern den schönen Satz: »Ich wünsche jedem Einzelnen von Ihnen einen Grund zur Empörung. Das ist sehr wertvoll. Wenn etwas Sie empört, wie mich die Nazis empört haben, werden Sie kämpferisch, stark und engagiert.« Ein solches Pathos des politischen Engagements konnten in Deutschland zuletzt die Grünen zum Leben erwecken. Aber das ist dreißig Jahre her.
In Frankreich wurde ein Buch der Hoffnung zum Bestseller. In Deutschland ein Buch der Niedertracht. Die deutsche Empörung hatte etwas Böses, die französische etwas Befreiendes.
Wenn Hessel schrieb: »Mein langes Leben hat mir eine ständige Abfolge von Gründen zur Empörung geliefert«, dann sprach da der Citoyen. Aus Sarrazin sprach der Bourgeois. Im deutschen Wort vom Bürger fallen diese beiden gegensätzlichen Bedeutungspole ja zusammen, der Staatsbürger und der Besitzbürger. Ernst Bloch schrieb, dem Citoyen seien »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit inhärent aufgegeben«. Er steht immer noch unter dem Zeichen der Trikolore, »die von ihm fordert, stets so zu handeln, dass die Maxime seines Handelns das Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung werden könnte. Dieser von Kant formulierte kategorische Imperativ ist allerdings konsequent erst möglich in einer klassenlosen Gesellschaft, auf sie hin ist daher das offene Leitbild des Citoyen gerichtet, bei Strafe des gekommenen Bourgeois.« Bloch hat das in seinem Spätwerk »Experimentum Mundi« geschrieben, aber es hätte nicht anders geklungen, wenn er es früher geschrieben hätte. Der Marxist Bloch war sicher: Die eigentliche Apotheose des Citoyens steht noch bevor. »Erst in der klassenlos gewordenen Gesellschaft hätte der kategorische Imperativ seine ideologiefreie Wahrheit. Desgleichen muß das Ideal des Citoyen erst von den Hüllen des Bourgeois befreit werden, damit es als reifste Frucht antizipierter menschlicher Bebauung, nicht mehr zur Selbstverschönerung des Bourgeois brauchbar werden könnte. Was von der bürgerlichen Revolution her als sein Inhalt in ihm steckt, ist deshalb genau zu prüfen ...« Diese »reifste Frucht« ist für den religiösen Marxisten der endlich erlöste Mensch. »Das Alte löst sich auf und das Neue will noch nicht werden«, hat Nietzsche geschrieben, »aber es soll und muß werden.«
Diese Art von Eschatologie ist im deutschen Diskurs dieser Tage selten geworden. Ein bisschen davon könnte uns nicht schaden.
Die Empörungsfähigkeit ist die Immunabwehr des politischen Systems. Wenn sie verlorengeht, verfällt der
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