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SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)

SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)

Titel: SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Augstein
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Geltung zu bringen. Und dafür ist die Anti-AKW-Bewegung letzten Endes ein ziemlich gutes Beispiel.
    A : Aber wenn das Finanzfukushima nicht ausgereicht hat, den Kurswechsel herbeizuführen, was denn dann noch?
    K : Aus dieser Krise wurden in der Tat noch keine strukturellen Konsequenzen gezogen. Die Politik tut sich nach wie vor außerordentlich schwer, auch nur die dringlichsten Revisionen durchzuführen. Aber darum hat niemand die Legitimation, die Regeln zu brechen. Wir würden damit vieles aufs Spiel setzen und letztlich nur noch mehr verlieren, als etwas zu gewinnen.

TEIL 3 REAKTION

11 EMPÖRUNG
    Im westlichen Teil des Bois de Boulogne, zur Route de Suresnes hin, ganz in der Nähe des großen Wasserfalls, der einst gebaut worden war, um die Bewässerungsprobleme des Parks zu lösen, steht ein Denkmal. Es wurde im Jahr 1946 eingeweiht und erinnert an 35 Mitglieder der Résistance, die hier am 16. August 1944 von deutschen Soldaten ermordet worden waren, keine zehn Tage vor der Befreiung der französischen Hauptstadt. Als Nicolas Sarkozy das Amt des Staatspräsidenten antrat, im Mai 2007, war seine erste Amtshandlung ein Besuch an diesem Denkmal. Der Präsident gedachte dort aber auch eines anderen Opfers der deutschen Gewaltherrschaft: Guy Môquet, 17 Jahre, als er starb, Kommunist. Môquet hatte zu einer Gruppe von kommunistischen Häftlingen gehört, die im Oktober des Jahres 1941 als Geiseln exekutiert worden waren. Am Tag von Sarkozys Amtsantritt las eine Schülerin den letzten Brief vor, den der Junge geschrieben hatte, bevor ihn die Deutschen erschossen. Sarkozy weinte und gab bekannt, dass dieser Brief von nun an am 22. Oktober eines jeden Jahres an allen französischen Oberschulen zu verlesen sei.
    Inzwischen heißt der französische Präsident François Hollande. Erst der zweite Sozialist der Fünften Republik, nach François Mitterrand, der seinerzeit kurz »Gott« genannt wurde und den man folgerichtig für eine Ausnahme hielt. Die Geschichte von Sarkozy und Guy Môquet erzählt viel über den Unterschied zwischen der deutschen und der französischen politischen Kultur – und auch über das Paradox der Linken in Frankreich: Sie waren immer wichtig, aber selten erfolgreich. Wenn die gesamte politische Klasse ihre Identität auf Revolution und Résistance gründet, hat die Linke ein Problem, ihre Daseinsberechtigung zu erklären. Wofür braucht man einen Sozialisten im Élysée-Palast, wenn der konservative Präsident die französische Jugend ermahnt, eines ermordeten Kommunisten zu gedenken? Auch auf Jean Jaurès und Léon Blum, die Gründerfiguren der französischen Linken, hat Sarkozy sich bereitwillig berufen. Es gibt in Frankreich eine Kultur des Protests, die von der politischen Ausrichtung unabhängig ist. Der politische Protest ist in Frankreich der Normalfall, während er in Deutschland verdächtig ist.
    Frankreich ist das Land der Revolution. Das ist mehr als politische Folklore. Die Franzosen pflegen den Kult der Revolte. Gleichzeitig hatte es die Linke in Frankreich immer schwer. Denn eigentlich graut es den Wählern vor Veränderungen. Dennoch war Hollandes Wahl kein Zufall. Die Lust am Aufstand und die Furcht vor Veränderung passen in Frankreich ganz gut zusammen. Da brach so etwas wie ein vorrevolutionärer Frühling aus. Die Franzosen lehnten sich gegen die Feudalherrschaft der Bankiers und der Deutschen auf. Die einen bedrohen die civilisation francaise mit ihrem Zinsdiktat, die anderen mit ihrem Sparwahn. Hollandes Wahl war ein Signal der Empörung für ganz Europa. Die Banken und die Deutschen stellen eine Bedrohung ja nicht nur für Frankreich dar. Und es gehört zum französischen Selbstverständnis, sich als Wiege des modernen Humanismus zu empfinden. Den Mut zum Pathos kann sich die Republik leisten.
    Unweigerlich muss ja die Tradition des Protests pathetisch werden, wenn sich jeder Bürger, der gegen eine Umgehungsstraße protestiert, in einer Ahnenreihe mit Revolutionsgardisten und Résistance-Kämpfern sieht. Allerdings hat der Soziologe Michel Crozier schon vor langer Zeit eine gewisse Unernsthaftigkeit in der französischen Freude am Widerstand festgestellt. Crozier ließ wenig gute Haare an der französischen Gesellschaft, die ihm »blockiert« vorkam. Von einer communauté délinquante hat der amerikanische Soziologe Jesse Richard Pitts gesprochen. Das übersetzt man wohl am besten mit der »Gemeinschaft der Aufsässigen«. Es gebe da viel Vergnügen am Kampf, aber

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