SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)
gemacht, dass die Leute in Stuttgart besonders heftig um die von Fällung bedrohten Bäume gekämpft haben. Was ist ein Baum im Vergleich zu einem Bahnhof? Ein Baum ist ein Symbol dafür, dass die Dinge einem nie ganz gehören. Man kann ein Haus besitzen und auch ein Stück Land. Aber man kann einen Baum nicht wirklich besitzen. Und wer einen Baum fällt, der nimmt der Gemeinschaft etwas weg. Ein Baum ist damit gleichzeitig auch ein Symbol für all das, was man den Leuten schon genommen hat. Der Baum ist groß und sichtbar. Aber das meiste, was die Leute verloren haben oder was sie als bedroht empfinden, ist gar nicht sichtbar: die Selbstbestimmung, die Würde, die Freiheit, die Wahl, die Chancen. Kein Wunder, dass die Leute um ihre Bäume kämpfen.
Zum Symbol werden Dinge aber nur, wenn es etwas zu Symbolisierendes gibt. Die Unzufriedenheit muss groß geworden sein, damit sie sich an der Fällung eines Baumes entlädt. Es muss eine gesellschaftliche Entwicklung an einem Umschlagpunkt angekommen sein. Die Finanzkrise war dieser Umschlagpunkt. Sie hat bei den Leuten das Gefühl erschüttert, selber Herr ihres Schicksals zu sein. Sie hat eine Prämisse der westlichen Demokratien als Lüge entlarvt. Keineswegs sind wir Herr unseres Schicksals.
Stuttgart 21 reihte sich darum ein in die lange Linie eines neuen Protests. Was Fest noch als »Befreiung zur Realität« ausgeben konnte, hat sich als Täuschung erwiesen. Mit dem Sturz des Ostblocks wurden wir keineswegs vom »Terror der Ideen« erlöst. Wir wurden im Gegenteil zu Sklaven einer einzigen Idee gemacht. Es ist eine mächtige Herrschaft, die von dieser Idee ausgeübt wird. So mächtig, dass sie es kaum nötig hat, sich in ihrer wahren Gestalt zu zeigen. So mächtig, dass sie den Staat und die meisten seiner Institutionen längst vollkommen durchdrungen hat. Alles bei Aufrechterhaltung des demokratischen Scheins. Allein, mit Demokratie hat diese Idee nicht sehr viel zu tun.
Das ist keine Übertreibung. Es ist ein Symptom unserer Krankheit, dass wir uns für gesund halten. Aber wie gesund ist eine Demokratie, in der dieses hier möglich ist:
Im Februar 2013 meldete die Deutsche Presse-Agentur: »›Blockupy‹-Teilnehmer entschädigt – Die hessische Polizei hat Teilnehmern der sogenannten ›Blockupy‹-Proteste in Frankfurt je 500 Euro Schmerzensgeld gezahlt, weil die Demonstranten zu Unrecht stundenlang in Gewahrsam genommen worden waren. Das berichtete ein Polizeisprecher am Montag in Frankfurt und bestätigte damit einen Bericht des Hessischen Rundfunks. Grundlage der Zahlungen war ein Urteil des Gießener Amtsgerichts. Bei den sogenannten ›Blockupy‹-Protesten hatten im vergangenen Mai mehr als 20.000 Menschen friedlich gegen die Finanzbranche demonstriert. Der großangelegte Polizeieinsatz und das Demonstrationsverbot der Stadt waren von den Organisatoren der Proteste als unverhältnismäßig kritisiert worden.«
Das war der deutsche Rechtsstaat in seiner ganzen ehrfurchtgebietenden Effizienz. Die Leute wollen demonstrieren. Der Staat unterbindet das. Die Demonstranten werden eingesperrt. Und nachher bekommen sie als Entschädigung dafür, dass man sie ihrer Grundrechte beraubt hat, Geld. Alles im Rahmen des Gesetzes. Denn es gibt auch ein Gesetz dafür, was zu geschehen hat, wenn das Gesetz gebrochen wurde. Und in Wahrheit sollten wir froh sein darüber. Denn stellen wir uns vor, es gäbe solche Gesetze nicht? Wo würden wir da enden? Aber sind wir froh darüber, dass alles seine Ordnung hat? Das ist eine sonderbare Ordnung, die eine Bedrohung sieht, wo Menschen ihre Rechte wahrnehmen, und diese dann bezahlen will, eigentlich kaufen. Weil man mit 500 Euro auch Grundrechte kaufen kann. Immerhin, die Demonstranten können sich nicht beklagen. Sie wurden nicht misshandelt. Sie müssen keine Nachteile fürchten. Man hat sie aus Sicherheitsgründen für eine Weile aus dem Verkehr gezogen und sie dann dafür entschädigt. Das ist perfekt.
Dieser Rechtsstaat kann einem wirklich unheimlich sein. Er erstickt den Protest in Rechtsförmigkeit. Er hat eine Strategie im Umgang mit der Abweichung gefunden, die so klug und effizient und so unendlich wirksam ist, dass man beinahe sprachlos dem Wunder solcher Rechtsstaatlichkeit gegenübersteht.
In Stuttgart hat man freilich gesehen, dass der Rechtsstaat auch anders kann. Und es ist ja keineswegs immer die Gewalt, die die Gegengewalt gebiert. Jener Ingenieur, der sein Augenlicht verlor, dem hat man eine
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