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SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)

SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)

Titel: SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Augstein
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Prinzipien des Neoliberalismus beherzigt: Preismechanismus und Egoismus. An die Stelle eines historischen Klassenbewusstseins ist das wohlverstandene Eigeninteresse getreten. Es ist kurios, dass die Journalisten gar nicht bemerken, dass sie den kleinen Gewerkschaften ausgerechnet jene Prinzipien vorwerfen, nach denen das Wirtschaftsleben der gesamten Gesellschaft umgebaut wurde. Die kleinen Gewerkschaften verhalten sich, wie sich jedes Unternehmen verhält: Sie denken an sich selbst zuerst. Nur Linke würden auf die Idee kommen, dem Daimler-Konzern vorzuwerfen, er nehme mit seiner Politik der Auslagerung von Produktion ins kostengünstigere Ausland die deutsche Wirtschaft und Gesellschaft in Geiselhaft. An die Gewerkschaften als organisierte Interessenvertretung stellt man jedoch ohne weiteres höhere Ansprüche als an Industrieunternehmen. Dabei verfolgen sie beide das gleiche Ziel: Gewinnmaximierung.
    Der Bedeutungsverlust der großen Gewerkschaften und der Erfolg ihrer kleinen Geschwister sind die sichtbaren Zeichen einer tieferen Entwicklung. Das System, in dem in Deutschland Löhne und Gehälter ausgehandelt werden, ändert sich. Davon bleibt auch die konflikthafte Form dieses Aushandelns nicht unberührt: der Arbeitskampf. Das sind nicht eben Meldungen, die Schlagzeilen machen, keine Geschichten, die für helle Aufregung bei Facebook und Twitter sorgen – aber als das Bundesarbeitsgericht im März 2012 die sogenannten »Unterstützerstreiks« unter bestimmten Umständen legalisiert hat, da war das tatsächlich ein wichtiger Tag für die deutschen Arbeitsbeziehungen. Das Gericht stärkte dadurch die Gewerkschaften. In Stuttgart hatten die Fluglotsen im Jahr 2009 für ein paar Stunden die Arbeit niedergelegt, um die streikenden Vorfeldarbeiter zu unterstützen. Die Fluggesellschaften hatten auf Schadensersatz geklagt – sie argumentierten, der Lotsenstreik sie rechtswidrig gewesen, weil er gar nicht den Lotsen selbst, sondern deren Kollegen gedient habe. Ein solcher Streik sei vom Streikrecht nicht mehr gedeckt, das im Grundgesetz ausdrücklich festgehalten ist. Das Arbeitsgericht wehrte die Klage ab. Im Jahr 2007 hatte es schon einmal eine ähnliche Entscheidung gegeben. Damals erklärte das Gericht einen Solidaritätsstreik unter bestimmten Bedingungen sogar dann für rechtens, wenn er über die Grenzen eines Tarifgebiets hinausreicht. Diese Entscheidungen waren deshalb so bedeutsam, weil sie dem Streikrecht der Gewerkschaften einen neuen Charakter verliehen: Der Streik wurde politisiert. Und das geht ganz gegen die herkömmliche deutsche Auffassung vom Arbeitskampf.
    Der Streik muss in Deutschland immer einem tariflich zu regelnden Ziel dienen: Lohnhöhe, Arbeitsbedingungen, all das, was die Tarifparteien untereinander abmachen können. Das ist der Inhalt des Artikels 9, Absatz 3, der »das Recht zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen, Vereinigungen zu bilden«, festhält.
    Diese Einschränkung ist keine Kleinigkeit. Die Linkspartei zum Beispiel verdient sich die Aufmerksamkeit deutscher Verfassungsschützer unter anderem deshalb, weil ihr der Artikel 9 des Grundgesetzes nicht ausreicht. Sie setzt sich für ein echtes politisches Streikrecht ein. Beflissen führt zum Beispiel der nordrhein-westfälische Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2011 auf: »Allerdings beruft sich ›DIE LINKE‹ im Programm (neben Marx und Engels) ausdrücklich auch auf Rosa Luxemburg. Für Luxemburg waren politischer Streik und Generalstreik geeignete Mittel, um die parlamentarische Demokratie auszuhebeln. Vor diesem Hintergrund entsteht der Eindruck, dass ›DIE LINKE‹ außerparlamentarischen Politikformen einen höheren Stellenwert einräumt als der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie.« Es geht um die Frage, ob eine Gewerkschaft für politische Ziele streiken darf. Wenn es um einen Militäreinsatz geht oder um die Kernkraft oder um eine Rentenreform, soll dann eine Gewerkschaft die Mittel des Arbeitskampfes einsetzen dürfen? Friedrich Ebert rief zum Generalstreik auf, um dem Kapp-Putsch zu begegnen. Aber das ist lange her. In Deutschland wäre das heute nicht erlaubt.
    Regelrecht verboten ist der politische Streik allerdings nicht. Es gibt kein Gesetz dagegen. Es ist nur so, dass die Arbeitsgerichte seit den frühen fünfziger Jahren solche Streiks für ungesetzlich erklärt haben, und eine Gewerkschaft, die dem zum Trotz zum politischen Streik aufriefe, könnte zum Schadensersatz

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