SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)
zuvor das letzte Aufbäumen der IG Metall. Weder die Hartz-Demonstranten noch die Gewerkschaften hatten dem, was man getrost den hegemonialen Diskurs nennen kann, irgendetwas entgegenzusetzen.
Norberto Bobbio hat geschrieben: »Der Hauptgrund, weshalb ich in bestimmten Zeitabschnitten meines Leben das Bedürfnis verspürte, mich mit Politik zu beschäftigen und manchmal, wenngleich seltener, politisch aktiv zu werden, lag immer in dem Unbehagen angesichts des Schauspiels der ungeheuerlichen, ebenso jedes Maß übersteigenden wie ungerechtfertigten Ungleichheiten zwischen Reichen und Armen, zwischen denen, die auf der sozialen Leiter oben, und denen, die unten stehen, zwischen denen, die Macht besitzen, das heißt die Fähigkeit, das Verhalten anderer zu bestimmen, ... und denen, die sie nicht besitzen.« Man kommt an der Erkenntnis nicht vorbei, dass in Deutschland in all den Jahren der zunehmenden Ungleichheit nur eine kleine, verschwindende, zu vernachlässigende Minderheit der Menschen von solch einem »Unbehagen« erfasst wurde. War das erträgliche Maß noch nicht erreicht? Oder verschieben sich die Maßstäbe für das Erträgliche immer mehr?
Die Antwort lautet: Wir sind die, die Max Weber noch im Schoß der Zukunft schlummern sah. Für uns ist eine »rein technisch gute und das heißt: rationale Beamten-Verwaltung und -Versorgung der letzte und einzige Wert«. Wir sind die Fellachen, von denen der große Soziologe spricht, und im »Gehäuse jener Hörigkeit« haben wir uns gemütlich eingerichtet.
Wir verharren in einer halb freiwilligen, halb angelernten Friedfertigkeit. Das nennt Weber den »Pazifismus der sozialen Ohnmacht«. Aber es ist nicht nur das. Es ist auch das Vergessen. Man hat uns das Vergessen gelehrt. Warum spielt die Erinnerung an den Streik von 2003 und die Hartz-IV-Proteste keine Rolle mehr? Weil wir keinen Ort mehr für dieses kollektive Gedächtnis haben. Die Medien sind nicht der Ort. Die Gewerkschaften sind es nicht mehr. Wo soll die Erinnerung an eine Bewegungen ohne Ergebnis bewahrt werden? An einen gescheiterten Versuch des Aufbegehrens? Auch aus dem Scheitern könnte ja ein Mythos werden. Aber wir vergessen sogar, dass man aufbegehren kann. Margaret Thatchers berühmtes »There Is No Alternative« ist schon lange als rituelle Beschwörungsformel erkannt, ein magisches Wort, ein Exorzismus gegen das alternative Denken. Es ist ein Mantra, das man sich immer wieder vorsagen muss, bis es eines Tages wirkt: Es gibt keine Alternative.
Aber wer dennoch aufbegehrt und eine Alternative zur Diskussion stellt, wird mit dem schlimmsten Fluch versehen, über den das System verfügt: dem Vergessen.
»Mit dem Sozialismus ist, nach dem Nationalsozialismus, der andere machtvolle Utopieversuch des Jahrhunderts gescheitert. Was damit endet, ist der mehr als zweihundert Jahre alte Glaube, dass sich die Welt nach einem ausgedachten Bilde von Grund auf ändern lasse. Zersprungen sind all die scharfsinnigen Träume über die Menschheitszukunft, die aus der Welt ein riesiges Schlachthaus gemacht haben. Der Aufruhr der zurückliegenden Jahre war, über seine vordergründigen Anlässe hinaus, vor allem ein Aufruhr gegen den Terror der Ideen und die Befreiung, die endlich kam, eine Befreiung zur Realität.« Da war eine ungeheure Erleichterung zu spüren in diesen Worten, die der kluge Konservative Joachim Fest im Jahr 1991 aufschrieb. Das war jetzt endlich das »Ende der Geschichte«. Endlich kein Grund mehr, sich mit der Vorstellung einer anderen Welt herumzuschlagen. Endlich ein Ende mit allen »Abgrenzungsrealitäten«. Dass es gar keinen anderen Weg gäbe, das muss man den Leuten erst einbläuen. Von allein glauben sie das nicht. Sie verlieren von allein auch nicht ihr Gerechtigkeitsempfinden. Es braucht Zeit, den Menschen das abzutrainieren. Aber es geht. Die Leute gewöhnen sich an alles. Nach 30 Jahren neoliberaler Dauerberieselung sind bestimmte Begriffe erfolgreich neu besetzt worden: der Begriff des Öffentlichen vor allem, der jetzt etwas Defizitäres hat, etwas Lächerliches, etwas Armseliges. Öffentlicher Rundfunk, öffentlicher Park, das klingt alles ungefähr so angenehm wie öffentliche Toilette. Wir haben uns daran gewöhnt, die Komposita zu schätzen, die sich mit Privat bilden oder mit Elite. Bei einer Privatschule wissen die Eltern, dass kein Unterricht ausfallen wird. Bei einer öffentlichen Schule können sie vom Gegenteil ausgehen.
Es haben sich manche Spaßvögel darüber lustig
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