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SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)

SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)

Titel: SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Augstein
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verpflichtet werden. Das wäre der Ruin. Es wurde bereits erwähnt, wie viel so ein Streik ein Automobilwerk kosten kann.
    Die meisten europäischen Länder haben allerdings mit politischen Streiks kein Problem – nur eine Handvoll Staaten macht eine Ausnahme, darunter Deutschland. In der repräsentativen Demokratie sollen politische Entscheidungen in den Parlamenten gefällt werden, nicht auf der Straße, das ist das Argument gegen den politischen Streik. Das wäre ein starkes Argument, wenn die repräsentative Demokratie tatsächlich so funktionieren würde. Sie funktioniert aber anders:
    Anfang 2013 wurde der Verdacht laut, dass die Versicherungslobby an einem Gesetzentwurf mitgeschrieben habe, der es ihr erlauben würde, weniger Geld an ihre Kunden auszuschütten. Ein paar Wochen zuvor war bekannt geworden, dass die Apothekenlobby einen Informanten im Bundesgesundheitsministerium gehabt haben soll, der Interna über kommende Gesetze verraten haben könnte. Seit geraumer Zeit gibt es Kritik an der Praxis mehrerer Ministerien, ihre Gesetzentwürfe von Anwaltskanzleien erarbeiten zu lassen, die auch für die jeweils betroffenen Wirtschaftsunternehmen arbeiten. Am erstaunlichsten aber ist die Praxis der »Leihbeamten«, das sind Konzernvertreter, die den Ministerien bei der Ausarbeitung der Gesetze helfen, aber weiterhin von ihren Unternehmen bezahlt werden. Hans Leyendecker, der Rechercheur der »Süddeutschen Zeitung«, schrieb darüber einmal: »Das war kein heimliches Programm, sondern hieß ›Crossing over‹ – schlanke Verwaltung, schlanker Staat. Auch wechselten Beamte für einige Zeit in die Wirtschaft. Nur böse Kritiker zeigten Unbehagen. ›Der gekaufte Staat‹ lautete der Titel eines 2008 erschienenen Buches, in dem zwei Mitarbeiter des TV-Magazins ›Monitor‹ darüber informierten, wie sich Konzernvertreter in den Ministerien ihre Gesetze selbst schrieben.«
    Das sind nur ein paar der bekannt gewordenen Fälle. Von wie viel anderen werden wir nie erfahren? Wer unter diesen Umständen den Arbeitnehmern den politischen Streik mit der Sorge um die parlamentarische Demokratie verbietet, will ihnen in Wahrheit die Waffengleichheit verwehren.
    Es ist ein Zeichen für die Schwäche der Gewerkschaften, dass sie es aufgegeben haben, für diese Waffengleichheit überhaupt einzutreten. Sie sind längst selbst Opfer jener Wahrnehmungsverzerrung geworden, die die Interessen der Wirtschaft mit denen der Menschen verwechselt. Dieser Verzerrung erliegen regelmäßig auch jene Zeitungen, die die kleinen Gewerkschaften als unsolidarische Wirtschaftsschädlinge diskreditieren. Da zeigt sich das gleiche Muster wie seinerzeit im Umgang mit dem Metallerstreik im Osten: Es geht darum, jeder Solidarisierung mit den Streikenden vorzubeugen. Das ist kein erklärtes Ziel, das ist nicht einmal ein bewusstes Ziel. Journalisten gehen nicht morgens zur Arbeit und nehmen sich vor: Heute untergraben wir das Klassenbewusstsein. Es liegt in der Natur der Arbeit der Medien in unserer Öffentlichkeitsdemokratie, dass die Journalisten diese Aufgabe erfüllen. Sie tun es bereitwillig und von selbst. Sie sind davon überzeugt, dass solche Streiks den Unternehmen schaden und damit der Wirtschaft und damit dem Land und damit den Leuten. Sie haben die Posten, die sie haben, weil sie davon überzeugt sind. Abweichende Meinungen in ein sich selbst erzeugendes und sich selbst verstärkendes System zu bringen ist sehr schwierig, wenn es geschieht, dann eher aus Zufall.
    Ein Denken aus früherer Zeit, »wir« gegen »die« – das gibt es nicht mehr. Der süßeste Traum des Kapitalismus ist Wirklichkeit geworden: Man muss die Medien nicht verbieten und die Arbeitnehmer – um gar nicht erst das Wort Arbeiter zu gebrauchen – nicht niederkartätschen. Wenn es darauf ankommt, beweisen sie, dass sie ihre Lektion gelernt haben. Ein Interessengegensatz zwischen denen, die ihre Arbeit geben, und denen, die sie nehmen – denn das gebräuchliche Begriffspaar Arbeitnehmer und Arbeitgeber stellt ja eine kuriose Verdrehung der Tatsachen dar –, wird nicht mehr wahrgenommen.
    DGB-Mann Sommer hatte bei den Hartz-IV-Protesten um die »Demokratie« gefürchtet – aber die blieb von all diesen Protesten völlig ungerührt und unberührt. Die Hartz-Proteste, die über keine institutionalisierte Struktur verfügten – außer den selbstgeklebten Plakaten hatten sie eigentlich gar keine Struktur –, gingen ebenso spurlos am System vorbei wie im Jahr

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