Sacramentum
sie, Gestalt anzunehmen, doch sie blieb undeutlich wie etwas, das man aus dem Augenwinkel heraus sieht, oder ein Wort, das einem auf der Zunge liegt. Alles, woran sie sich erinnern konnte, war ein Gefühl von unerträglichem Schmerz und von … Eingesperrtsein.
Liv schaute zu der schweren Tür, bemerkte das Schlüsselloch und erinnerte sich an den Korridor dahinter. Sie hatte jedes Mal einen kurzen Blick hinauswerfen können, wann immer die Ärzte und Schwestern in den letzten Tagen gekommen waren.
Wie viele Tage waren das nun schon? Vier? Fünf?
Liv hatte auch zwei Stühle draußen im Flur an der Wand gesehen, auf denen Männer saßen. Einer davon war ein Cop in dunkelblauer Uniform. Liv kannte das Abzeichen nicht. Der andere hatte ebenfalls eine Uniform getragen: schwarze Schuhe, schwarzer Anzug und ein schwarzes Hemd mit einem schmalen weißen Kragen. Die Vorstellung, dass dieser Mann nur wenige Meter von ihr entfernt saß, weckte wieder die Furcht in Liv. Sie wusste genug über die blutige Geschichte Trahpahs, um die Gefahr zu erkennen, in der sie schwebte. Falls sie wirklich das Sakrament gesehen hatte und falls sie das vermuteten, dann würden sie auch versuchen, sie zum Schweigen zu bringen … so wie sie es auch mit ihrem Bruder getan hatten. Auf diese Art hatten sie schon immer ihr Geheimnis bewahrt. Das war zwar ein Klischee, aber es entsprach der Wahrheit: Tote reden nicht.
Und der Priester, der vor Livs Tür Wache hielt, war nicht hier, um mit ihr für ihr Seelenheil und eine rasche Genesung zu beten.
Er war hier, um dafür zu sorgen, dass sie nicht verschwand.
Er war hier, um für ihr Schweigen zu sorgen.
Zimmer 410
Vier Türen weiter lag Kathryn Mann in den gestärkten Laken ihres eigenen Gefängnisses. Ihr dickes schwarzes Haar lag in Locken auf dem Kissen. Kathryn zitterte, obwohl es in dem Krankenhauszimmer geradezu heiß war. Die Ärzte hatten erklärt, sie stünde noch immer unter Schock, eine anhaltende Reaktion auf die Wucht der Explosion, die sie in dem Tunnel unter der Zitadelle überlebt hatte. Auch hörte sie auf dem rechten Ohr nichts mehr, und das linke war schwer verletzt. Die Ärzte hatten gesagt, dass sich ihr Gehör wieder erholen würde, doch wann immer Kathryn sie gefragt hatte, ob das ›vollständig‹ hieß, waren sie ihr ausgewichen.
Kathryn konnte sich nicht daran erinnern, wann sie sich zum letzten Mal so elend und hilflos gefühlt hatte. Als der Mönch auf dem Gipfel der Zitadelle erschienen war und mit seinem Körper das Zeichen des Tau geformt hatte, da hatte sie geglaubt, die uralte Prophezeiung würde wahr:
Und das Kreuz wird fallen
Das Kreuz wird sich erheben
Das Sakrament zu befreien
Am Beginn der neuen Zeit
Und so war es auch geschehen. Liv hatte die Zitadelle betreten, und die Sancti waren herausgekommen, und nun starben sie, einer nach dem anderen, der uralte Feind, die Hüter des Sakraments. Selbst mit ihrem verletzten Gehör hatte Kathryn mitbekommen, wie immer wieder Notfallteams durch den Flur geeilt waren, wenn ein lautes Heulen einen Herzstillstand verkündet hatte. Und nach jedem Alarm hatte sie die Krankenschwester gefragt, wer da gestorben war, aus Angst, es könnte das Mädchen gewesen sein. Doch jedes Mal hatte es sich nur um einen Mönch gehandelt, der sich vor seinem Schöpfer für seine Taten würde rechtfertigen müssen, und deren Tod war ein Segen. Man hatte Kathryn von Liv getrennt; daher wusste sie nicht genau, was in der Zitadelle geschehen war. Sie wusste noch nicht einmal, ob Liv das Sakrament gefunden hatte; allerdings ließ das Sterben der Sancti sie darauf hoffen.
Doch wenn dies ein Sieg war, dann mit üblem Beigeschmack.
Wann immer Kathryn die Augen schloss, sah sie die blutige, zerschmetterte Leiche von Oscar de la Cruz, ihrem Vater, in einem Lagerhaus am Flughafen. Er hatte den größten Teil seines langen Lebens damit verbracht, sich vor der Zitadelle zu verstecken, nachdem er aus ihr entkommen war und in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges seinen eigenen Tod vorgetäuscht hatte. Doch zu guter Letzt hatten sie ihn erwischt. Er hatte Kathryn das Leben gerettet, indem er sich auf eine Handgranate geworfen hatte, mit der ein Agent der Zitadelle sie und Gabriel hatte töten wollen.
Es war Oscar gewesen, der Kathryn zum ersten Mal von der Zitadelle erzählt hatte, von ihrer finsteren Geschichte und den Geheimnissen, die sie enthielt. Und er hatte sie schon als Kind auch die prophetischen Zeichen gelehrt, die in den Stein
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