Saeculum
vorausgesetzt, das Wetter spielte mit. Heute war es sonniger als die ganze letzte Woche - kein Wunder, dass rund um die Burg Hunderte Menschen unterwegs waren. Doch nur wenige vertraute Gesichter.
Iris schob den Gurt ihrer Harfentasche ein Stück die Schulter hoch. Kein Warze, kein Steinchen.
Sie konnte es verstehen, es war ihr selbst schwergefallen, die alte Gewandung wieder anzulegen, auf der die letzte Convention unauslöschliche Spuren hinterlassen hatte. Simons Blutspritzer auf ihrem Rock waren nur noch helle Schatten, wie Milchkaffee, doch ihr Anblick brachte den Moment im Burgkeller sofort zurück. Das Schwert, den Schrei.
Sie schüttelte die Erinnerung ab und sah sich um. Suchte das Gelände nach Alma ab, nach Arno und Roderick, dem kläffenden kleinen Flohbeutel, nach Nathan oder Mona. Aber weder heute noch bei den Märkten, die sie an den vergangenen Wochenenden besucht hatte, war jemand von ihnen aufgetaucht. Die Lust aufs Mittelalter schien ihnen allen vergangen zu sein.
Nur Lisbeth nicht, interessanterweise. Iris hatte sie vorhin entdeckt, am Stand für Ledertaschen, wo sie mit ihrer Schönheit den Umsatz hob.
Sie blieb vor der Anschlagtafel für die Schaukämpfe stehen, auf der sonst so oft der Name Saeculum gestanden hatte. Kroch da tatsächlich ein leichter Anflug von Wehmut in ihr hoch? Ernsthaft? Krieg dich wieder in den Griff, dumme Kuh, schalt sie sich selbst. Schließlich war sie hier, um zu arbeiten, nicht um mit Bekannten herumzuhängen.
Sie setzte sich auf die sonnengewärmten Steine eines kleinen Mäuerchens und packte die Harfe aus. Eine Trainingsrunde vor dem richtigen Auftritt tat ihnen beiden gut, dem Instrument und ihr selbst.
Mitten im zweiten Lied stockte sie. Glaubte zuerst, sich getäuscht zu haben. Sie kniff die Augen zusammen - nein, kein Irrtum. Gut zehn Meter von ihr entfernt stand Doro und lauschte, während sie flache, runde Steine zu Boden fallen ließ.
Die Erinnerung stürzte über Iris herein und brachte schmutzige Schatten alter Angst mit sich. Thurisaz in Wasser, Othala in Erde.
Sie beendete ihr Lied und stand auf. »Hi, Doro.« Das Lächeln in ihrem Gesicht fühlte sich gekünstelt an. »Was macht das Schicksal, hm? Schlägt es wieder um sich?«
Pling. Ein Stein berührte bei der Landung einen anderen, rutschte seitlich weg und blieb verkehrt herum liegen. Doro betrachtete das Muster mit gerunzelter Stirn.
»Hallo, Iris. Schön, dich zu sehen«, sagte sie, ohne den Blick zu heben. In ihrer Stimme war keine Spur von Verlegenheit oder Reue, stellte Iris fest.
»Wessen Unheil hast du denn diesmal in Arbeit?«
Doro antwortete nicht, ihre Aufmerksamkeit galt allein den Steinen, sie bewegte lautlos die Lippen, während ihre Hand erneut in den Lederbeutel tauchte, um eine weitere Rune hervorzuziehen.
Wieder fiel der Stein auf die in den Boden geritzten Kreise.
Algiz, wenn Iris sich nicht irrte. Egal. Es war Zeit, Doro auf den Boden der Tatsachen zu holen, das würde völliges Neuland für sie sein.
»Rate mal, wer nicht unter den Steinen gestorben ist.«
Doro nickte, ohne Überraschung, ohne ein Anzeichen von Irritation. »Das weiß ich doch längst. Freut mich für ihn. Und für dich.« Sie schien nicht mal ansatzweise von einem schlechten Gewissen geplagt zu werden, als ob sie nie mit aller Vehemenz Bastians Tod gefordert hätte.
»War wohl doch nichts dran an dem Fluch«, sagte Iris herausfordernd. »Kein Opfer. Keine Strafe. Kommst du dir nicht lächerlich vor, so nachträglich betrachtet?«
»Selbstverständlich war etwas dran«, entgegnete Doro sanft. »Doch Tristram hatte Nachsehen mit uns. Er hat sich mit dem ernst gemeinten Versuch eines Opfers begnügt. Vermutlich aufgrund meiner ausdauernden Beschwichtigungen.« Sie hob ihre dicken schwarzen Augenbrauen. »Wenn du gekommen bist, um mir zu danken, so nehme ich das gerne an.«
Iris hörte sich laut auflachen. »Danken? Das ist gut. Du hast uns die ganze Zeit über in Angst versetzt und es mit aller Kraft darauf angelegt, dass wir Bastian umbringen! Aus Aberglauben, Doro, das ist Wahnsinn, siehst du das denn nicht?«
Nun hob Doro doch den Kopf und musterte Iris aus zu Schlitzen verengten Augen. »Sieh mal einer an. Deine Aura hat sich verändert. Lass mich doch einen Blick auf deine Handlinien werfen.«
»Kommt überhaupt nicht infrage!«
»Schade.« Sie zog ihr schwarz-silbern glitzerndes Tuch enger um ihre Schultern. »Könnte sein, dass dein Schicksal sich gewendet hat. Da bin ich mir beinahe
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