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Saemtliche Dramen

Saemtliche Dramen

Titel: Saemtliche Dramen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Camus
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zu uns?
    DORA (wirft sich ihm entgegen)
    Oh Borja, natürlich gehöre ich zu euch! Ich werde bis zum Ende gehen. Ich hasse die Tyrannei, und ich weiß, dass wir nichts anderes tun können. Aber ich habe mich mit frohem Herzen dafür entschieden, und mit traurigem Herzen bleibe ich dabei. Das ist der Unterschied. Wir sind Gefangene.
    ANNENKOW
    Ganz Russland ist ein Gefängnis. Wir werden seine Mauern in die Luft sprengen!
    DORA
    Lass mich einfach die Bombe werfen, und du wirst sehen. Ich werde mitten durch die Glut gehen, mit sicherem Schritt. Es ist leicht, es ist so viel leichter, an seinen Widersprüchen zu sterben, als mit ihnen zu leben. Hast du geliebt, hast du jemals geliebt, Borja?
    ANNENKOW
    Ja, ich habe geliebt, aber das ist so lange her, dass ich mich nicht daran erinnern kann.
    DORA
    Wie lange?
    ANNENKOW
    Vier Jahre.
    DORA
    Wie lange leitest du die Organisation?
    ANNENKOW
    Seit vier Jahren.
    (Pause.)
    Jetzt liebe ich die Organisation.
    DORA (geht zum Fenster)
    Lieben, ja, aber geliebt werden! … Nein, wir müssen weitergehen. Man würde gern stehen bleiben. Weiter! Weiter! Man möchte die Arme ausbreiten, sich gehenlassen. Aber die widerwärtige Ungerechtigkeit klebt an uns wie Leim. Weiter! Und wir sind verdammt, größer zu sein als wir selber. Menschliche Wesen, Gesichter möchten wir lieben. Liebe statt Gerechtigkeit! Nein, wir müssen weitergehen. Weiter, Dora! Weiter, Janek!
    (Sie weint.) Aber er ist bald am Ziel.
    ANNENKOW (nimmt sie in die Arme)
    Er wird sicher begnadigt.
    DORA (sieht ihn an)
    Du weißt genau, dass er nicht begnadigt wird. Das darf nicht passieren.
    ( ANNENKOW wendet die Augen ab.)
    Vielleicht geht er jetzt schon auf den Hof hinaus. Alle sind plötzlich still, als er erscheint. Hoffentlich friert er nicht. Borja, weißt du, wie man jemanden hängt?
    ANNENKOW
    Mit einem Seil. Genug, Dora!
    DORA (blindlings)
    Der Henker springt ihm auf die Schultern. Das Genick bricht. Ist das nicht grässlich?
    ANNENKOW
    Ja. Einerseits. Andererseits ist das ein Glück.
    DORA
    Ein Glück?
    ANNENKOW
    Die Hand eines Menschen zu spüren, bevor man stirbt.
    ( DORA lässt sich in einen Sessel fallen. Pause.)
    Dora, hinterher müssen wir fort. Und eine Zeitlang ausruhen.
    DORA (verwirrt)
    Fort? Mit wem?
    ANNENKOW
    Mit mir, Dora.
    DORA (schaut ihn an)
    Fortgehen! (Wendet sich zum Fenster) Der Morgen graut. Janek ist sicher schon tot.
    ANNENKOW
    Ich bin dein Bruder.
    DORA
    Ja, du bist mein Bruder, ihr seid alle meine geliebten Brüder.
    (Man hört den Regen. Der Tag bricht an. DORA spricht sehr leise.)
    Aber was für einen furchtbaren Geschmack kann die Brüderlichkeit haben!
    (Es klopft. WOINOW und STEPAN kommen herein. Alle verharren reglos, DORA wankt, bleibt aber mit sichtbarer Anstrengung stehen.)
    STEPAN (leise)
    Janek hat uns nicht verraten.
    ANNENKOW
    War Orlow dabei?
    STEPAN
    Ja.
    DORA (geht mit festem Schritt auf ihn zu)
    Setz dich. Erzähl.
    STEPAN
    Wozu?
    DORA
    Erzähl alles. Ich habe das Recht, alles zu erfahren. Ich verlange, dass du es erzählst. Jede Einzelheit.
    STEPAN
    Das kann ich nicht. Außerdem müssen wir jetzt los.
    DORA
    Nein, erst redest du. Wann hat man ihn benachrichtigt?
    STEPAN
    Um zehn Uhr abends.
    DORA
    Wann hat man ihn gehängt?
    STEPAN
    Um zwei Uhr morgens.
    DORA
    Vier Stunden lang hat er gewartet?
    STEPAN
    Ja, ohne ein Wort. Und dann ging alles sehr schnell. Jetzt ist es vorbei.
    DORA
    Vier Stunden, ohne zu sprechen? Moment. Was hatte er an? Trug er seinen Pelzmantel?
    STEPAN
    Nein. Er war ganz in Schwarz, ohne Mantel. Und er trug einen schwarzen Filzhut.
    DORA
    Wie war das Wetter?
    STEPAN
    Tiefschwarze Nacht. Der Schnee schmutzig. Dann verwandelte der Regen ihn in klebrigen Matsch.
    DORA
    Er zitterte?
    STEPAN
    Nein.
    DORA
    Ist Orlow seinem Blick begegnet?
    STEPAN
    Nein.
    DORA
    Wen sah er an?
    STEPAN
    Alle, sagt Orlow, ohne jemanden zu sehen.
    DORA
    Und dann? Und dann?
    STEPAN
    Lass gut sein, Dora.
    DORA
    Nein, ich will es wissen. Wenigstens sein Tod gehört mir.
    STEPAN
    Man verlas ihm das Urteil.
    DORA
    Was tat er dabei?
    STEPAN
    Nichts. Nur einmal hat er kurz sein Bein bewegt, um etwas Schmutz von seinem Schuh zu schütteln.
    DORA (den Kopf in den Händen)
    Etwas Schmutz!
    ANNENKOW (jäh)
    Woher weißt du das?
    ( STEPAN schweigt.)
    Nach alldem hast du Orlow gefragt? Warum?
    STEPAN (wendet den Blick ab)
    Zwischen Janek und mir stand etwas.
    ANNENKOW
    Was?
    STEPAN
    Ich habe ihn beneidet.
    DORA
    Und dann, Stepan, und dann?
    STEPAN
    Pater Florenski kam und zeigte ihm das

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