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Saemtliche Dramen

Saemtliche Dramen

Titel: Saemtliche Dramen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Camus
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Scheinwerfer geht an; in seinem Licht steht der Erzähler reglos vor dem Vorhang, den Hut in der Hand.)
    GRIGOREJEW, DER ERZÄHLER (höflich, ironisch und ungerührt)
    Meine sehr verehrten Damen und Herren:
    Die Ereignisse, denen Sie nun beiwohnen werden, haben sich in unserer Provinzstadt begeben, nicht ohne Zutun meines ehrenwerten Freundes, Professor Stepan Trofimowitsch Werchowenski. Der Professor hat in unserer Gemeinschaft stets hohen Bürgersinn bewiesen. Er war liberal und idealistisch eingestellt, liebte das Abendland, Fortschritt und Gerechtigkeit und überhaupt alles Erhabene. Bei diesen Höhenflügen aber versteifte er sich auf die Idee, der Zar und seine Minister wollten ihm persönlich böse, und er zog in unsere Stadt, um hier würdevoll die Rolle des verbannten und verfolgten Denkers zu spielen. Drei-, viermal pro Jahr allerdings befiel ihn bürgersinniger Katzenjammer, der ihn ans Bett fesselte, mit einer Wärmflasche auf dem Bauch.
    Er lebte im Hause seiner Freundin, der Generalin Warwara Stawrogina, die ihm, Stepan, nach dem Tod ihres Gatten die Erziehung ihres Sohnes Nikolai Stawrogin anvertraut hatte. Ach – ich vergaß, Ihnen zu sagen, dass Stepan Trofimowitsch zweimal verwitwet war und einmal Vater. Seinen Sohn hatte er ins Ausland verfrachtet. Seine beiden Frauen waren jung gestorben und – um die Wahrheit zu sagen – mit ihm nicht sehr glücklich gewesen. Nun, es ist eben nicht möglich, zugleich die Gerechtigkeit und seine Frau zu lieben. Stepan Trofimowitschs ganze Zuneigung galt also seinem Schüler, Nikolai Stawrogin, um dessen sittliche Erziehung er sich mit großer Strenge kümmerte, bis zu jenem Tag, da Nikolai floh, um ein lasterhaftes Leben zu führen. So blieb Stepan Trofimowitsch in trauter Zweisamkeit mit Warwara Stawrogina zurück, die ihm grenzenlose Freundschaft entgegenbrachte, mit anderen Worten, er ging ihr oft unendlich auf die Nerven. Hier beginnt meine Geschichte.
    Erstes Bild
    (Der Vorhang öffnet sich auf Warwara Stawroginas Salon. Der ERZÄHLER setzt sich zu STEPAN TROFIMOWITSCH an den Tisch und spielt mit ihm Karten.)
    STEPAN
    Ach! Ich habe vergessen, Sie abheben zu lassen. Verzeihen Sie mir, lieber Freund, aber ich habe heute Nacht schlecht geschlafen. Ich habe so bereut, dass ich bei Ihnen über Warwara geklagt habe!
    GRIGOREJEW
    Sie haben nur gesagt, sie behalte Sie aus Eitelkeit bei sich und sei auf Ihre Bildung eifersüchtig.
    STEPAN
    Genau. Oh nein, das stimmt gar nicht! Sie kommen raus. Nein, sie ist ein Engel an Ehrgefühl und zartem Sinn, und ich bin das genaue Gegenteil.
    ( WARWARA STAWROGINA erscheint. Sie bleibt auf der Schwelle stehen.)
    WARWARA
    Schon wieder Karten!
    (Die anderen stehen auf.)
    Setzen Sie sich, spielen Sie weiter. Ich habe zu tun.
    (Blättert in Papieren auf einem Tisch links. Die Männer spielen weiter, doch STEPAN TROFIMOWITSCH wirft ihr Blicke zu, bis sie endlich spricht, allerdings ohne ihn anzusehen.)
    Ich dachte, Sie müssten heute Morgen an Ihrem Buch arbeiten?
    STEPAN
    Ich habe mich im Garten ergangen, hatte den Tocqueville dabei.
    WARWARA
    Und haben Paul de Kock gelesen. Seit fünfzehn Jahren kündigen Sie jetzt schon Ihr Buch an.
    STEPAN
    Ja. Das Material ist bereit, aber es müsste geordnet werden. Doch was soll’s! Man hat mich vergessen. Niemand braucht mich mehr.
    WARWARA
    Sie wären weniger vergessen, wenn Sie weniger oft Karten spielten.
    STEPAN
    Ja, ich spiele. Das ist meiner nicht würdig. Aber wer ist schuld? Wer hat meine Karriere ruiniert? Ach, soll Russland doch verrecken! Trumpf.
    WARWARA
    Nichts hindert Sie daran, zu arbeiten und durch ein Werk zu beweisen, dass man Sie zu Unrecht übersieht.
    STEPAN
    Liebe Freundin, Sie vergessen, dass ich schon vieles veröffentlicht habe.
    WARWARA
    Ach wirklich? Und wer erinnert sich noch daran?
    STEPAN
    Wer? Nun – unser Freund hier ganz sicher.
    GRIGOREJEW
    Oh ja. Zunächst sind da Ihre Vorträge über die Araber im Allgemeinen, sodann der Anfang Ihrer Abhandlung über den außergewöhnlichen Seelenadel bestimmter Ritter einer bestimmten Epoche, und vor allem Ihre Doktorarbeit über die Bedeutung, welche die kleine Stadt Hanau zwischen 1413 und 1428 hätte erlangen können, sowie über die verborgenen Gründe, warum sie diese Bedeutung eben nicht erlangt hat.
    STEPAN
    Lieber Freund, Sie haben ein ehernes Gedächtnis. Ich danke Ihnen.
    WARWARA
    Darum geht es nicht. Seit fünfzehn Jahren kündigen Sie ein Buch an, haben aber noch kein einziges Wort zu Papier

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