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Saemtliche Dramen

Saemtliche Dramen

Titel: Saemtliche Dramen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Camus
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las. Bei den Worten «Mein Tod wird mein letzter Protest sein gegen diese Welt voller Tränen und Blut …» fing ich an zu zittern.
    DORA
    Eine Welt voller Tränen und Blut … Ja, du hast recht, das hat er gesagt.
    WOINOW
    Das hat er gesagt … Ach Dora, welch ein Mut! Und sein Aufschrei am Ende: «Wenn ich mich des menschlichen Protestes gegen die Gewalt würdig erwiesen habe, so soll der Tod mein Werk durch die Reinheit der Idee krönen!» Da habe ich beschlossen, wieder zu euch zu kommen.
    DORA (verbirgt ihr Gesicht in den Händen)
    Ja, er suchte Reinheit. Aber was für eine schreckliche Krönung!
    WOINOW
    Weine nicht, Dora. Er hat sich gewünscht, dass bei seinem Tod niemand weint. Oh, wie gut ich ihn jetzt verstehe! Ich kann nicht an ihm zweifeln. Ich habe gelitten, weil ich feige war. Und dann habe ich in Tiflis eine Bombe geworfen. Jetzt bin ich wie Janek. Als ich von seiner Verurteilung erfuhr, hatte ich nur einen Gedanken: an seine Stelle treten, wo ich schon nicht an seiner Seite stehen konnte.
    DORA
    Wer könnte heute Abend an seine Stelle treten? Er wird allein sein, Alexej.
    WOINOW
    Wir müssen ihn mit unserem Stolz unterstützen, wie er uns mit seinem Vorbild unterstützt. Weine nicht.
    DORA
    Schau. Meine Augen sind trocken. Aber stolz sein? Nein, das kann ich nie wieder!
    STEPAN
    Dora, urteile nicht schlecht über mich. Ich möchte, dass Janek am Leben bleibt. Wir brauchen Männer wie ihn.
    DORA
    Er möchte es aber nicht. Und deswegen müssen wir seinen Tod wollen.
    ANNENKOW
    Du bist verrückt.
    DORA
    Wir müssen es so wollen. Ich weiß, wie es in ihm aussieht. Auf diese Weise wird er Frieden finden. Oh ja, er soll sterben! (Leiser) Aber schnell.
    STEPAN
    Ich breche auf, Borja. Komm, Alexej. Orlow erwartet uns.
    ANNENKOW
    Ja, und kommt bald zurück.
    ( STEPAN und WOINOW gehen zur Tur. STEPAN schaut zu DORA .)
    STEPAN
    Wir werden es erfahren. Pass auf sie auf.
    ( DORA steht am Fenster. ANNENKOW sieht sie an.)
    DORA
    Der Tod! Der Galgen! Wieder der Tod! Ach, Borja!
    ANNENKOW
    Ja, Schwesterchen. Aber es gibt keine andere Lösung.
    DORA
    Sag das nicht. Wenn der Tod die einzige Lösung ist, sind wir nicht auf dem richtigen Weg. Der richtige Weg führt zum Leben, zur Sonne. Man kann nicht ohne Ende frieren …
    ANNENKOW
    Dieser Weg führt auch zum Leben. Für die anderen. Russland wird leben, unsere Enkel werden leben. Vergiss nicht, was Janek gesagt hat: «Russland wird schön sein!»
    DORA
    Die anderen, unsere Enkel … Ja. Aber Janek ist im Gefängnis, und der Strick ist kalt. Er wird sterben. Vielleicht ist er jetzt schon tot, damit die anderen leben. Ach, Borja, und wenn die anderen nicht leben? Wenn er umsonst stirbt?
    ANNENKOW
    Sei still.
    (Pause.)
    DORA
    Wie kalt es ist. Dabei ist Frühling. Im Hof des Gefängnisses stehen Bäume. Er muss sie sehen.
    ANNENKOW
    Warte ab, was die anderen berichten. Zittere nicht so.
    DORA
    Mir ist so kalt, dass ich mir vorkomme, als sei ich schon tot.
    (Pause.)
    All das lässt uns so schnell alt werden. Niemals wieder werden wir Kinder sein, Borja. Gleich beim ersten Mord flieht die Kindheit. Ich werfe die Bombe, und schau, in einer Sekunde verfliegt ein ganzes Leben. Ja, jetzt können wir sterben. Wir haben das Menschenleben abgeschritten.
    ANNENKOW
    Dann sterben wir im Kampf, als wahre Menschen.
    DORA
    Ihr habt zu schnell gemacht. Ihr seid keine Menschen mehr.
    ANNENKOW
    Unglück und Elend waren auch schnell. Auf dieser Welt ist kein Platz mehr für Geduld und langsames Reifen. Russland hat es eilig.
    DORA
    Ich weiß. Wir haben das Unglück der Welt auf uns genommen. Auch er hat das getan. Welch ein Mut! Manchmal denke ich aber, darin liegt ein Stolz, der bestraft werden wird.
    ANNENKOW
    Ein Stolz, den wir mit unserem Leben bezahlen. Weiter kann niemand gehen. Es ist ein Stolz, auf den wir ein Recht haben.
    DORA
    Können wir sicher sein, dass niemand weiter gehen wird? Manchmal habe ich Angst, wenn ich Stepan reden höre. Vielleicht kommen andere nach uns, die sich auf uns berufen als Legitimation zum Töten und die nicht mit ihrem Leben bezahlen werden.
    ANNENKOW
    Das wäre feige, Dora.
    DORA
    Wer weiß? Vielleicht wäre das ja nur gerecht. Und niemand würde es mehr wagen, der Gerechtigkeit ins Gesicht zu sehen.
    ANNENKOW
    Dora!
    ( DORA spricht nicht weiter.)
    Zweifelst du? Ich erkenne dich nicht wieder.
    DORA
    Mir ist kalt. Ich denke an ihn; er muss sich weigern zu zittern, damit es so aussieht, als hätte er keine Angst.
    ANNENKOW
    Gehörst du nicht mehr

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