Sämtliche Werke
nie gemeinschaftliche Sache macht. Sie lieben ihn nicht, diese Spießbürger, denn er lacht nicht mit ihnen über Voltairesche Witze, er ist nicht industriell und tanzt nicht mit ihnen um den Maibaum der Gloire! Er trägt das Haupt sehr hoch, und ein melancholischer Stolz spricht aus allen seinen Zügen: »Ich könnte vielleicht etwas Besseres tun, als für dieses Lumpenpack in mühsamen Tageskämpfen mein Leben vergeuden!« Das ist in der Tat der Mann, der nicht sehr zärtlich um Popularität buhlt und sogar den Grundsatz aufgestellt hat, daß ein guter Minister unpopulär sein müsse. Er hat nie der Menge gefallen wollen, sogar nicht in jenen Tagen der Restauration, wo er als gelehrter Volkstribun am herrlichsten gefeiert wurde. Als er in der Sorbonne seine denkwürdigen Vorlesungen hielt und der Beifall der Jugend sich ein bißchen allzu stürmisch äußerte, dämpfte er selber diesen huldigenden Lärm, mit den strengen Worten: »Meine Herren, auch im Enthusiasmus muß die Ordnung vorwalten!« Ordnungsliebe ist überhaupt ein vorstechender Zug des Guizotschen Charakters, und schon aus diesem Grunde wirkte sein Ministerium sehr wohltätig in die Konfusion der Gegenwart. Man hat ihn wegen dieser Ordnungsliebe nicht selten der Pedanterei beschuldigt, und ich gestehe, der schroffe Ernst seiner Erscheinung wird gemildert durch eine gewisse anklebende gelehrte Magisterhaftigkeit, die an unsre deutsche Heimat, besonders an Göttingen, erinnert. Er ist ebensowenig reaktionär, wie Hofrat Heeren, Tychsen oder Eichhorn solches gewesen – aber er wird nie erlauben, daß man die Pedelle prügle oder sich sonstig auf der Weenderstraße herumbalge und die Laternen zerschlage.
XXXV
Paris, 19. Mai 1841
Vorigen Sonnabend hielt diejenige Sektion des Institut Royal, welche sich Académie des sciences morales et politiques nennt, eine ihrer merkwürdigsten Sitzungen. Der Schauplatz war, wie gewöhnlich, jene Halle des Palais Mazarin, die durch ihre hohe Wölbung, sowie durch das Personal, das manchmal dort seinen Sitz nimmt, so oft an die Kuppel des Invalidendoms erinnerte. In der Tat, die andern Sektionen des Instituts, die dort ihre Vorträge halten, zeugen nur von greisenhafter Ohnmacht, aber die obenerwähnte Académie des sciences morales et politiques macht eine Ausnahme und trägt den Charakter der Frische und Kraft. Es herrscht in dieser letzten Sektion ein großartiger Sinn, während die Einrichtung und der Gesamtgeist des Institut Royal sehr kleinlich ist. Ein Witzling bemerkte sehr richtig: »Diesmal ist der Teil größer als das Ganze.« In der Versammlung vom vorigen Sonnabend atmete eine ganz besonders jugendliche Regung: Cousin, welcher präsidierte, sprach mit jenem mutigen Feuer, das manchmal nicht sehr wärmt, aber immer leuchtet; und gar Mignet, welcher das Gedächtnis des verstorbenen Merlin de Douai, des berühmten Juristen und Konventglieds, zu feiern hatte, sprach so blühend schön, wie er selbst aussieht. Die Damen, die den Sitzungen der Section des sciences morales et politiques immer in großer Anzahl beiwohnen, wenn ein Vortrag des schönen Secrétaire perpétuel angekündigt ist, kommen dorthin vielleicht mehr, um zu sehen, als um zu hören, und da viele darunter sehr hübsch sind, so wirkt ihr Anblick manchmal störend auf die Zuhörer. Was mich betrifft, so fesselte mich diesmal der Gegenstand der Mignetschen Rede ganz ausschließlich, denn der berühmte Geschichtschreiber der Revolution sprach wieder über einen der wichtigsten Führer der großen Bewegung, welche das bürgerliche Leben der Franzosen umgestaltet, und jedes Wort war hier ein Resultat interessanter Forschung. Ja, das war die Stimme des Geschichtschreibers, des wirklichen Chefs von Klios Archiven, und es schien, als hielt er in den Händen jene ewigen Tabletten, worin die strenge Göttin bereits ihre Urteilssprüche eingezeichnet. Nur in der Wahl der Ausdrücke und in der mildernden Betonung bekundete sich manchmal die traditionelle Lobpflicht des Akademikers. Und dann ist Mignet auch Staatsmann, und mit kluger Scheu mußten die Tagesverhältnisse berücksichtigt werden bei der Besprechung der jüngsten Vergangenheit. Es ist eine bedenkliche Aufgabe, den überstandenen Sturm zu beschreiben, während wir noch nicht in den Hafen gelangt sind. Das französische Staatsschiff ist vielleicht noch nicht so wohl geborgen, wie der gute Mignet meint. Unfern vom Redner, auf einer der Bänke mir gegenüber, sah ich Herrn Thiers, und sein Lächeln
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