Sämtliche Werke
erwarten, ihre aufrüttelnde Stunde. Wo wachen die Wecker? Ich habe manchmal darnach geforscht, und geheimnisvoll deutete man alsdann – auf die Armee! Hier in der Armee, heißt es, gebe es noch ein gewaltiges Nationalbewußtsein; hier, unter der dreifarbigen Fahne, hätten sich jene Hochgefühle hingeflüchtet, die der regierende Industrialismus vertreibe und verhöhne; hier blühe noch die genügsame Bürgertugend, die unerschrockene Liebe für Großtat und Ehre, die Flammenfähigkeit der Begeisterung; während überall Zwietracht und Fäulnis, lebe hier noch das gesündeste Leben, zugleich ein angewohnter Gehorsam für die Autorität, jedenfalls bewaffnete Einheit – es sei gar nicht unmöglich, daß eines frühen Morgens die Armee das jetzige Bourgeoisieregiment, dieses zweite Direktorium, über den Haufen werfe und ihren achtzehnten Brumaire mache! – Also Soldatenwirtschaft wäre das Ende des Liedes, und die menschliche Gesellschaft bekäme wieder Einquartierung?
Die Verurteilung des Herrn Dupoty durch die Pairskammer entsprang nicht bloß aus greisenhafter Furcht, sondern aus jenem Erbgroll gegen die Revolution, der im Herzen vieler edlen Pairs heimlich nistet. Denn das Personal der erlauchten Versammlung besteht nicht aus lauter frischgebackenen Leuten der Neuzeit; man werfe nur einen Blick auf die Liste der Männer, die das Urteil gefällt, und man sieht mit Verwunderung, daß neben dem Namen eines imperialistischen oder philippistischen Emporkömmlings immer zwei bis drei Namen des alten Regimes sich geltend machen. Die Träger dieser Namen bilden also natürlicherweise die Majorität; und da sitzen sie auf den Sammetbänken des Luxembourg, alte guillotinierte Menschen mit wieder angenähten Köpfen, wonach sie jedesmal ängstlich tasten, wenn draußen das Volk murmelt – Gespenster, die jeden Hahn hassen und den gallischen am meisten, weil sie aus Erfahrung wissen, wie schnell sein Morgengeschrei ihrem ganzen Spuk ein Ende machen könnte –, und es ist ein entsetzliches Schauspiel, wenn diese unglücklichen Toten Gericht halten über Lebendige, über die jüngsten und verzweiflungsvollsten Kinder der Revolution, über jene verwahrlosten und enterbten Kinder, deren Elend ebenso groß ist wie ihr Wahnsinn, über die Kommunisten!
XL
Paris, 12. Januar 1842
Wir lächeln über die armen Lappländer, die, wenn sie an Brustkrankheit leiden, ihre Heimat verlassen und nach St. Petersburg reisen, um dort die milde Luft eines südlichen Klimas zu genießen. Die algierschen Beduinen, die sich hier befinden, dürften mit demselben Recht über manche unsrer Landsleute lächeln, die ihrer Gesundheit wegen den Winter lieber in Paris zubringen als in Deutschland und sich einbilden, daß Frankreich ein warmes Land sei. Ich versichere Sie, es kann bei uns auf der Lüneburger Heide nicht kälter sein als hier in diesem Augenblick, wo ich Ihnen mit froststeifen Fingern schreibe. Auch in der Provinz muß eine bittere Kälte herrschen. Die Deputierten, welche jetzt rudelweise anlangen, erzählen nur von Schnee, Glatteis und umgestürzten Diligencen. Ihre Gesichter sind noch rot und verschnupft, ihr Gehirn eingefroren, ihre Gedanken neun Grad unter Null. Bei Gelegenheit der Adresse werden sie auftauen. Alles hat jetzt hier ein frostiges und ödes Ansehen. Nirgends Übereinstimmung bei den wichtigsten Fragen, und beständiger Windwechsel. Was man gestern wollte, heute will man’s nicht mehr, und Gott weiß, was man morgen begehren wird. Nichts als Hader und Mißtrauen, Schwanken und Zersplitterung. König Philipp hat die Maxime seines mazedonischen Namensgenossen, das »Trenne und herrsche!«, bis zum schädlichsten Übermaß ausgeübt. Die zu große Zerteilung erschwert wieder die Herrschaft, zumal die konstitutionelle, und Guizot wird mit den Spaltungen und Zerfaserungen der Kammer seine liebe Not haben. Guizot ist noch immer der Schutz und Hort des Bestehenden. Aber die sogenannten Freunde des Bestehenden, die Konservativen, sind dessen wenig eingedenk, und sie haben bereits vergessen, daß noch vorigen Freitag in derselben Stunde »A bas Guizot!« und »Vive Lamennais!« gerufen worden! Für den Mann der Ordnung, für den großen Ruhestifter war es in der Tat ein indirekter Triumph, daß man ihn herabwürdigte, um jenen schauderhaften Priester zu feiern, der den politischen Fanatismus mit dem religiösen vermählt und der Weltverwirrung die letzte Weihe erteilt. Armer Guizot, armer Schulmeister, armer Rector magnificus
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