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Sämtliche Werke

Titel: Sämtliche Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Heine
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sich eine neue, unerhörte Proletarierherrschaft mit allen Glaubenssätzen der Gütergemeinschaft geltend machen würde. Sie sind Konservative durch äußere Notwendigkeit, nicht durch innern Trieb, und die Furcht ist hier die Stütze aller Dinge.
    Wird diese Furcht noch auf lange Zeit vorhalten? Wird nicht eines frühen Morgens der nationale Leichtsinn die Köpfe ergreifen und selbst die Ängstlichen in den Strudel der Revolution fortreißen? Ich weiß es nicht, aber es ist möglich, und die Wahlresultate zu Paris sind sogar ein Merkmal, daß es wahrscheinlich ist. Die Franzosen haben ein kurzes Gedächtnis und vergessen sogar ihre gerechtesten Befürchtungen. Deshalb treten sie so oft auf als Akteure, ja als Hauptakteure, in der ungeheuern Tragödie, die der liebe Gott auf der Erde aufführen läßt. Andere Völker erleben ihre große Bewegungsperiode, ihre Geschichte, nur in der Jugend, wenn sie nämlich ohne Erfahrung sich in die Tat stürzen; denn später, im reifern Alter, hält das Nachdenken und das Abwägen der Folgen die Völker wie die Individuen vom raschen Handeln zurück, und nur die äußere Not, nicht die eigene Willensfreude, treibt diese Völker in die Arena der Weltgeschichte. Aber die Franzosen behalten immer den Leichtsinn der Jugend, und soviel sie auch gestern getan und gelitten, sie denken heute nicht mehr daran, die Vergangenheit erlöscht in ihrem Gedächtnis, und der neue Morgen treibt sie zu neuem Tun und neuen Leiden. Sie wollen nicht alt werden, und sie glauben sich vielleicht die Jugend selbst zu erhalten, wenn sie nicht ablassen von jugendlicher Betörung, jugendlicher Sorglosigkeit und jugendlicher Großmut! Ja, Großmut, eine fast kindische Güte im Verzeihen, bildet einen Grundzug des Charakters der Franzosen; aber ich kann nicht umhin zu bemerken, daß diese Tugend mit ihren Gebrechen aus demselben Born, der Vergeßlichkeit, hervorquillt. Der Begriff »Verzeihen« entspricht bei diesem Volke wirklich dem Worte »Vergessen«, dem Vergessen der Beleidigung. Wäre dies nicht der Fall, es gäbe täglich Mord und Totschlag in Paris, wo bei jedem Schritte sich Menschen begegnen, zwischen denen eine Blutschuld existiert.
    Diese charakteristische Gutmütigkeit der Franzosen äußert sich in diesem Augenblick ganz besonders in bezug auf Ludwig Philipp, und seine ärgsten Feinde im Volk, mit Ausnahme der Karlisten, offenbaren eine rührende Teilnahme an seinem häuslichen Unglück. Ich möchte behaupten, der König ist jetzt wieder populär. Als ich gestern vor Notre-Dame die Vorbereitungen zur Leichenfeier betrachtete und dem Gespräch der Kurzjacken zuhörte, die dort versammelt standen, vernahm ich unter andern die naive Äußerung: der König könne jetzt ruhig in Paris spazierengehen, und es werde niemand auf ihn schießen. (Welche Popularität!) Der Tod des Herzogs von Orleans, der allgemein geliebt war, hat seinem Vater die störrigsten Herzen wiedergewonnen, und die Ehe zwischen König und Volk ist durch das gemeinschaftliche Unglück gleichsam aufs neue eingesegnet worden. Aber wie lange werden die schwarzen Flitterwochen dauern?
LI
    Paris, 17. September 1842
    Nach einer vierwöchentlichen Reise bin ich seit gestern wieder hier, und ich gestehe, das Herz jauchzte mir in der Brust, als der Postwagen über das geliebte Pflaster der Boulevards dahinrollte, als ich den ersten Putzladen mit lächelnden Grisettengesichtern vorüberfuhr, als ich das Glockengeläute der Cocoverkäufer vernahm, als die holdselige zivilisierte Luft von Paris mich wieder anwehte. Es wurde mir fast glücklich zumut, und den ersten Nationalgardisten, der mir begegnete, hätte ich umarmen können; sein zahmes, gutmütiges Gesicht grüßte so witzig hervor unter der wilden, rauhen Bärenmütze, und sein Bajonett hatte wirklich etwas Intelligentes, wodurch es sich von den Bajonetten anderer Korporationen so beruhigend unterscheidet. Warum aber war die Freude bei meiner Rückkehr nach Paris diesmal so überschwenglich, daß es mich fast bedünkte, als beträte ich den süßen Boden der Heimat, als hörte ich wieder die Laute des Vaterlandes? Warum übt Paris einen solchen Zauber auf Fremde, die in seinem Weichbild einige Jahre verlebt? Viele wackere Landsleute, die hier seßhaft, behaupten, an keinem Ort der Welt könne der Deutsche sich heimischer fühlen als eben in Paris und Frankreich selbst sei am Ende unserm Herzen nichts anderes als ein französisches Deutschland.
    Aber diesmal ist meine Freude bei der

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