Sämtliche Werke
Andenken der Toten, ihr Fortleben in den Spätergebornen, gleichsam ihre irdische Unsterblichkeit, gesichert werde) –, nach solcher antiken Anschauungsweise war die Handlung der Thamar eine höchst sittliche, fromme, gottgefällige Tat, naiv schön und fast so heroisch wie die Tat der Judith, die unsern heutigen Patriotismusgefühlen schon etwas nähersteht. Was ihren Schwiegervater Juda betrifft, so vindizieren wir für ihn eben keinen Lorbeer, aber wir behaupten, daß er in keinem Falle eine Sünde beging. Denn erstens war die Beiwohnung eines Weibes, das er an der Landstraße fand, für den Hebräer der Vorzeit ebensowenig eine unerlaubte Handlung wie der Genuß einer Frucht, die er von einem Baume an der Straße abgebrochen hätte, um seinen Durst zu löschen; und es war gewiß ein heißer Tag im heißen Mesopotamien, und der arme Erzvater Juda lechzte nach einer Erfrischung. Und dann trägt seine Handlung ganz den Stempel des göttlichen Willens, sie war eine providentielle: ohne jenen großen Durst hätte Thamar kein Kind bekommen; dieses Kind aber wurde der Ahnherr Davids, welcher als König über Juda und Israel herrschte, und es ward also zugleich auch der Stammvater jenes noch größern Königs mit der Dornenkrone, den jetzt die ganze Welt verehrt, Jesus von Nazareth.
Was die Auffassung dieses Sujets betrifft, so will ich, ohne mich in einen allzu homiletischen Tadel einzulassen, dieselbe mit wenigen Worten beschreiben. Thamar, die schöne Person, sitzt an der Landstraße und offenbart bei dieser Gelegenheit ihre üppigsten Reize. Fuß, Bein, Knie usw. sind von einer Vollendung, die an Poesie grenzt. Der Busen quillt hervor aus dem knappen Gewand, blühend, duftig, verlockend, wie die verbotene Frucht im Garten Eden. Mit der rechten Hand, die ebenfalls entzückend trefflich gemalt ist, hält sich die Schöne einen Zipfel ihres weißen Gewandes vors Gesicht, so daß nur die Stirn und die Augen sichtbar. Diese großen schwarzen Augen sind verführerisch wie die Stimme der glatten Satansmuhme. Das Weib ist zu gleicher Zeit Apfel und Schlange, und wir dürfen den armen Juda nicht deswegen verdammen, daß er ihr die verlangten Pfänder: Stab, Ring und Gürtel, sehr hastig hinreicht. Sie hat, um dieselben in Empfang zu nehmen, die linke Hand ausgestreckt, während sie, wie gesagt, mit der rechten das Gesicht verhüllt. Diese doppelte Bewegung der Hände ist von einer Wahrheit, wie sie die Kunst nur in ihren glücklichsten Momenten hervorbringt. Es ist hier eine Naturtreue, die zauberhaft wirkt. Dem Juda gab der Maler eine begehrliche Physiognomie, die eher an einen Faun als an einen Patriarchen erinnern dürfte, und seine ganze Bekleidung besteht in jener weißen wollenen Decke, die seit der Eroberung Algiers auf so vielen Bildern eine große Rolle spielt. Seit die Franzosen mit dem Orient in unmittelbarste Bekanntschaft getreten, geben ihre Maler auch den Helden der Bibel ein wahrhaftes morgenländisches Kostüm. Das frühere traditionelle Idealkostüm ist in der Tat etwas abgenutzt durch dreihundertjährigen Gebrauch, und am allerwenigsten wäre es passend, nach dem Beispiel der Venezianer, die alten Hebräer in einer modernen Tagestracht zu vermummen. Auch Landschaft und Tiere des Morgenlandes behandeln seitdem die Franzosen mit größerer Treue in ihren Historienbildern, und dem Kamele, welches sich auf dem Gemälde des Horaz Vernet befindet, sieht man es wohl an, daß der Maler es unmittelbar nach der Natur kopiert und nicht, wie ein deutscher Maler, aus der Tiefe seines Gemüts geschöpft hat. Ein deutscher Maler hätte vielleicht hier in der Kopfbildung des Kamels, das Sinnige, das Vorweltliche, ja das Alttestamentalische hervortreten lassen. Aber der Franzose hat nur eben ein Kamel gemalt, wie Gott es erschaffen hat, ein oberflächliches Kamel, woran kein einzig symbolisches Haar ist und welches, sein Haupt hervorstreckend über die Schulter des Juda, mit der größten Gleichgültigkeit dem verfänglichen Handel zuschaut. Diese Gleichgültigkeit, dieser Indifferentismus, ist ein Grundzug des in Rede stehenden Gemäldes, und auch in dieser Beziehung trägt dasselbe das Gepräge unsrer Periode. Der Maler tauchte seinen Pinsel weder in die ätzende Böswilligkeit Voltairescher Satire noch in die liederlichen Schmutztöpfe von Parny und Konsorten; ihn leitet weder Polemik noch Immoralität; die Bibel gilt ihm soviel wie jedes andere Buch, er betrachtet dasselbe mit echter Toleranz, er hat gar kein
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