Sämtliche Werke
Revolution in den neunziger Jahren so blutig und entsetzlich, vorigen Juli aber so menschlich und schonend war, läßt sich folgern, daß eine Revolution in Deutschland ebenso den einen oder den anderen Charakter annehmen müsse. Nur wenn dieselben Bedingnisse vorhanden sind, lassen sich dieselben Erscheinungen erwarten. Der Charakter der französischen Revolution war aber zu jeder Zeit bedingt von dem moralischen Zustande des Volks und besonders von seiner politischen Bildung. Vor dem ersten Ausbruch der Revolution in Frankreich gab es dort zwar eine schon fertige Zivilisation, aber doch nur in den höheren Ständen und hie und da im Mittelstand; die unteren Klassen waren geistig verwahrlost und durch den engherzigsten Despotismus von jedem edlen Emporstreben abgehalten. Was aber gar politische Bildung betrifft, so fehlte sie nicht nur jenen unteren, sondern auch den oberen Klassen. Man wußte damals nur von kleinlichen Manövers zwischen rivalisierenden Korporationen, von wechselseitigem Schwächungssysteme, von Traditionen der Routine, von doppeldeutigen Formelkünsten, von Mätresseneinfluß und dergleichen Staatsmisere. Montesquieu hatte nur eine verhältnismäßig g’ringe Anzahl Geister geweckt. Da er immer von einem historischen Standpunkte ausgeht, gewann er wenig Einfluß auf die Massen eines enthusiastischen Volks, das am empfänglichsten ist für Gedanken, die ursprünglich und frisch aus dem Herzen quellen, wie in den Schriften Rousseaus. Als aber dieser, der Hamlet von Frankreich, der den zürnenden Geist erblickt und die argen Gemüter der gekrönten Giftmischer, die gleißende Leerheit der Schranzen, die läppische Lüge der Hofetikette und die gemeinsame Fäulnis durchschaute und schmerzhaft ausrief: »Die Welt ist aus ihren Fugen getreten, weh mir, daß ich sie wieder einrichten soll!«, als Jean-Jacques Rousseau halb mit verstelltem, halb mit wirklichem Verzweiflungswahnsinn seine große Klage und Anklage erhob; – als Voltaire, der Lukian des Christentums, den römischen Priestertrug und das darauf gebaute göttliche Recht des Despotismus zugrunde lächelte; – als Lafayette, der Held zweier Welten und zweier Jahrhunderte, mit den Argonauten der Freiheit aus Amerika zurückkehrte und die Idee einer freien Konstitution, das Goldne Vlies, mitbrachte; – als Necker rechnete und Sieyès definierte und Mirabeau redete und die Donner der Konstituierenden Versammlung über die welke Monarchie und ihr blühendes Defizit dahinrollten und neue ökonomische und staatsrechtliche Gedanken, wie plötzliche Blitze, emporschossen: – da mußten die Franzosen die große Wissenschaft der Freiheit, die Politik, erst erlernen, und die ersten Anfangsgründe kamen ihnen teuer zu stehen, und es kostete ihnen ihr bestes Blut.
Daß aber die Franzosen so teures Schulgeld bezahlen mußten, das war die Schuld jener blödsinnig lichtscheuen Despotie, die, wie gesagt, das Volk in geistiger Unmündigkeit zu erhalten gesucht, alle staatswissenschaftliche Belehrung hintertrieben, den Jesuiten und Obskuranten der Sorbonne die Bücherzensur übertragen und gar die periodische Presse, das mächtigste Beförderungsmittel der Volksintelligenz, aufs lächerlichste unterdrückt hatte. Man lese nur in Merciers »Tableau de Paris« den Artikel über die Zensur vor der Revolution, und man wundert sich nicht mehr über jene krasse politische Unwissenheit der Franzosen, die nachher zur Folge hatte, daß sie von den neuen politischen Ideen mehr geblendet als erleuchtet, mehr erhitzt als erwärmt wurden, daß sie jedem Pamphletisten und Journalisten aufs Wort glaubten und daß sie von jedem Schwärmer, der sich selbst betrog, und jedem Intriganten, den Pitt besoldete, zu den ausschweifendsten Handlungen verleitet werden konnten. Das ist ja eben der Segen der Preßfreiheit, sie raubt der kühnen Sprache des Demagogen allen Zauber der Neuheit, das leidenschaftlichste Wort neutralisiert sie durch ebenso leidenschaftliche Gegenrede, und sie erstickt in der Geburt schon die Lügengerüchte, die, von Zufall oder Bosheit gesät, so tödlich frech emporwuchern im Verborgenen, gleich jenen Giftpflanzen, die nur in dunklen Waldsümpfen und im Schatten alter Burg- und Kirchentrümmer gedeihen, im hellen Sonnenlichte aber elendig und jämmerlich verdorren. Freilich, das helle Sonnenlicht der Preßfreiheit ist für den Sklaven, der lieber im Dunkeln die allerhöchsten Fußtritte hinnimmt, ebenso fatal wie für den Despoten, der seine einsame Ohnmacht
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