Sämtliche Werke
genug, um die Kreise zu überschauen, innerhalb derselben sich jene hohen Geister bewegen. Ja, indem die Menge nicht die Grenzen des Wollens und Dürfens jener hohen Geister kennt, kann es ihr leicht begegnen, in den Handlungen derselben weder Befugnis noch Notwendigkeit zu sehen, und die geistig Blöd- und Kurzsichtigen klagen dann über Willkür, Inkonsequenz, Charakterlosigkeit. Minder begabte Menschen, deren oberflächlichere und engere Lebensanschauung leichter ergründet und überschaut wird und die gleichsam ihr Lebensprogramm in populärer Sprache ein für allemal auf öffentlichem Markte proklamiert haben, diese kann das verehrungswürdige Publikum immer im Zusammenhang begreifen, es besitzt einen Maßstab für jede ihrer Handlungen, es freut sich dabei über seine eigene Intelligenz, wie bei einer aufgelösten Scharade, und jubelt: »Seht, das ist ein Charakter!«
Es ist immer ein Zeichen von Borniertheit, wenn man von der bornierten Menge leicht begriffen und ausdrücklich als Charakter gefeiert wird. Bei Schriftstellern ist dies noch bedenklicher, da ihre Taten eigentlich in Worten bestehen, und was das Publikum als Charakter in ihren Schriften verehrt, ist am Ende nichts anders als knechtische Hingebung an den Moment, als Mangel an Bildnerruhe, an Kunst.
Der Grundsatz, daß man den Charakter eines Schriftstellers aus seiner Schreibweise erkenne, ist nicht unbedingt richtig; er ist bloß anwendbar bei jener Masse von Autoren, denen beim Schreiben nur die augenblickliche Inspiration die Feder führt und die mehr dem Worte gehorchen als befehlen. Bei Artisten ist jener Grundsatz unzuläßlich, denn diese sind Meister des Wortes, handhaben es zu jedem beliebigen Zwecke, prägen es nach Willkür, schreiben objektiv, und ihr Charakter verrät sich nicht in ihrem Stil.
Ob Börne ein Charakter ist, während andere nur Dichter sind, diese unfruchtbare Frage können wir nur mit dem mitleidigsten Achselzucken beantworten.
»Nur Dichter« – wir werden unsere Gegner nie so bitter tadeln, daß wir sie in eine und dieselbe Kategorie setzen mit Dante, Milton, Cervantes, Camões, Philipp Sidney, Friedrich Schiller, Wolfgang Goethe, welche nur Dichter waren… Unter uns gesagt, diese Dichter, sogar der letztere, zeigten manchmal Charakter!
»Sie haben Augen und sehen nicht, sie haben Ohren und hören nicht, sie haben sogar Nasen und riechen nichts.« – Diese Worte lassen sich sehr gut anwenden auf die plumpe Menge, die nie begreifen wird, daß ohne innere Einheit keine geistige Größe möglich ist und daß, was eigentlich Charakter genannt werden muß, zu den unerläßlichsten Attributen des Dichters gehört.
Die Distinktion zwischen Charakter und Dichter ist übrigens zunächst von Börne selbst ausgegangen, und er hatte selber schon allen jenen schnöden Folgerungen vorgearbeitet, die seine Anhänger später gegen den Schreiber dieser Blätter abhaspelten. In den »Pariser Briefen« und den erwähnten Artikeln des »Réformateurs« wird bereits von meinem charakterlosen Poetentum und meiner poetischen Charakterlosigkeit hinlänglich gezüngelt, und es winden und krümmen sich dort die giftigsten Insinuationen. Nicht mit bestimmten Worten, aber mit allerlei Winken werde ich hier der zweideutigsten Gesinnungen, wo nicht gar der gänzlichen Gesinnungslosigkeit, verdächtigt! Ich werde in derselben Weise nicht bloß des Indifferentismus, sondern auch des Widerspruchs mit mir selber bezüchtigt. Es lassen sich hier sogar einige Zischlaute vernehmen, die – können die Toten im Grabe erröten? –, ja, ich kann dem Verstorbenen diese Beschämung nicht ersparen: er hat sogar auf Bestechlichkeit hingedeutet…
Schöne, süße Ruhe, die ich in diesem Augenblick in tiefster Seele empfinde! Du belohnst mich hinreichend für alles, was ich getan, und für alles, was ich verschmäht… Ich werde mich weder gegen den Vorwurf der Indifferenz noch gegen den Verdacht der Feilheit verteidigen. Ich habe es vor Jahren, bei Lebzeiten der Insinuanten, meiner unwürdig gehalten; jetzt fordert Schweigen sogar der Anstand. Das gäbe ein grauenhaftes Schauspiel… Polemik zwischen dem Tod und dem Exil! – Du reichst mir aus dem Grabe die bittende Hand?.. Ohne Groll reiche ich dir die meinige… Sieh, wie schön ist sie und rein! Sie ward nie besudelt von dem Händedruck des Pöbels, ebensowenig wie vom schmutzigen Golde der Volksfeinde… Im Grunde hast du mich ja nie beleidigt… In allen deinen Insinuationen ist auch für keinen
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