Sämtliche Werke
Das ist ein Zauberklang und Zauberglanz, der einem prosaischen Publikum sehr leicht als unnatürlich vorkommt und der doch noch weit natürlicher ist als die gewöhnliche Natur; es ist nämlich durch die Kunst erhöhete, bis zur blühendsten Göttlichkeit gesteigerte Natur.
Die besten Tragödiendichter der Franzosen sind noch immer Alexander Dumas und Victor Hugo. Diesen nenne ich zuletzt, weil seine Wirksamkeit für das Theater nicht so groß und erfolgreich ist, obgleich er alle seine Zeitgenossen diesseits des Rheines an poetischer Bedeutung überragt. Ich will ihm keineswegs das Talent für das Dramatische absprechen, wie von vielen geschieht, die aus perfider Absicht beständig seine lyrische Größe preisen. Er ist ein Dichter und kommandiert die Poesie in jeder Form. Seine Dramen sind ebenso lobenswert wie seine Oden. Aber auf dem Theater wirkt mehr das Rhetorische als das Poetische, und die Vorwürfe, die bei dem Fiasko eines Stückes dem Dichter gemacht werden, träfen mit größerem Rechte die Masse des Publikums, welches für naive Naturlaute, tiefsinnige Gestaltungen und psychologische Feinheiten minder empfänglich ist als für pompöse Phrase, plumpes Gewieher der Leidenschaft und Kulissenreißerei. Letzteres heißt im französischen Schauspielerargot: brûler les planches.
Victor Hugo ist überhaupt hier in Frankreich noch nicht nach seinem vollen Werte gefeiert. Deutsche Kritik und deutsche Unparteilichkeit weiß seine Verdienste mit besserem Maße zu messen und mit freierem Lobe zu würdigen. Hier steht seiner Anerkenntnis nicht bloß eine klägliche Kritikasterei, sondern auch die politische Parteisucht im Wege. Die Karlisten betrachten ihn als einen Abtrünnigen, der seine Leier, als sie noch von den letzten Akkorden des Salbungslieds Karls X. vibrierte, zu einem Hymnus auf die Juliusrevolution umzustimmen gewußt. Die Republikaner mißtrauen seinem Eifer für die Volkssache und wittern in jeder Phrase die versteckte Vorliebe für Adeltum und Katholizismus. Sogar die unsichtbare Kirche der Saint-Simonisten, die überall und nirgends, wie die christliche Kirche vor Konstantin, auch diese verwirft ihn; denn diese betrachtet die Kunst als ein Priestertum und verlangt, daß jedes Werk des Dichters, des Malers, des Bildhauers, des Musikers Zeugnis gebe von seiner höheren Weihe, daß es seine heilige Sendung beurkunde, daß es die Beglückung und Verschönerung des Menschengeschlechts bezwecke. Die Meisterwerke Victor Hugos vertragen keinen solchen moralischen Maßstab, ja sie sündigen gegen alle jene großmütigen, aber irrigen Anforderungen der neuen Kirche. Ich nenne sie irrig, denn, wie Sie wissen, ich bin für die Autonomie der Kunst; weder der Religion noch der Politik soll sie als Magd dienen, sie ist sich selber letzter Zweck, wie die Welt selbst. Hier begegnen wir denselben einseitigen Vorwürfen, die schon Goethe von unseren Frommen zu ertragen hatte, und wie dieser muß auch Victor Hugo die unpassende Anklage hören, daß er keine Begeisterung empfände für das Ideale, daß er ohne moralischen Halt, daß er ein kaltherziger Egoist sei usw. Dazu kommt eine falsche Kritik, welche das Beste, was wir an ihm loben müssen, sein Talent der sinnlichen Gestaltung, für einen Fehler erklärt, und sie sagen: es mangle seinen Schöpfungen die innerliche Poesie, la poésie intime, Umriß und Farbe seien ihm die Hauptsache, er gebe äußerlich faßbare Poesie, er sei materiell, kurz, sie tadeln an ihm eben die löblichste Eigenschaft, seinen Sinn für das Plastische.
Und dergleichen Unrecht geschieht ihm nicht von den alten Klassikern, die ihn nur mit aristotelischen Waffen befehdeten und längst besiegt sind, sondern von seinen ehemaligen Kampfgenossen, einer Fraktion der romantischen Schule, die sich mit ihrem literarischen Gonfaloniere ganz überworfen hat. Fast alle seine früheren Freunde sind von ihm abgefallen, und, um die Wahrheit zu gestehen, abgefallen durch seine eigene Schuld, verletzt durch jenen Egoismus, der bei der Schöpfung von Meisterwerken sehr vorteilhaft, im gesellschaftlichen Umgange aber sehr nachteilig wirkt. Sogar Sainte-Beuve hat es nicht mehr mit ihm aushalten können; sogar Sainte-Beuve tadelt ihn jetzt, er, welcher einst der getreueste Schildknappe seines Ruhmes war. Wie in Afrika, wenn der König von Darfur öffentlich ausreitet, ein Panegyrist vor ihm herläuft, welcher mit lautester Stimme beständig schreit: »Seht da den Büffel, den Abkömmling eines Büffels, den
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