Sämtliche Werke
Stier der Stiere, alle andre sind Ochsen, und nur dieser ist der rechte Büffel!«, so lief einst Sainte-Beuve jedesmal vor Victor Hugo einher, wenn dieser mit einem neuen Werke vors Publikum trat, und stieß in die Posaune und lobhudelte den Büffel der Poesie. Diese Zeit ist vorbei, Sainte-Beuve feiert jetzt die gewöhnlichen Kälber und ausgezeichneten Kühe der französischen Literatur, die befreundeten Stimmen schweigen oder tadeln, und der größte Dichter Frankreichs kann in seiner Heimat nimmermehr die gebührende Anerkennung finden.
Ja, Victor Hugo ist der größte Dichter Frankreichs, und, was viel sagen will, er könnte sogar in Deutschland unter den Dichtern erster Klasse eine Stellung einnehmen. Er hat Phantasie und Gemüt und dazu einen Mangel an Takt, wie nie bei Franzosen, sondern nur bei uns Deutschen gefunden wird. Es fehlt seinem Geiste an Harmonie, und er ist voller geschmackloser Auswüchse, wie Grabbe und Jean Paul. Es fehlt ihm das schöne Maßhalten, welches wir bei den klassischen Schriftstellern bewundern. Seine Muse, trotz ihrer Herrlichkeit, ist mit einer gewissen deutschen Unbeholfenheit behaftet. Ich möchte dasselbe von seiner Muse behaupten, was man von den schönen Engländerinnen sagt: sie hat zwei linke Hände.
Alexander Dumas ist kein so großer Dichter wie Victor Hugo, aber er besitzt Eigenschaften, womit er auf dem Theater weit mehr als dieser ausrichten kann. Ihm steht zu Gebote jener unmittelbare Ausdruck der Leidenschaft, welchen die Franzosen Verve nennen, und dann ist er mehr Franzose als Hugo: er sympathisiert mit allen Tugenden und Gebrechen, Tagesnöten und Unruhigkeiten seiner Landsleute, er ist enthusiastisch, aufbrausend, komödiantenhaft, edelmütig, leichtsinnig, großsprecherisch, ein echter Sohn Frankreichs, der Gaskogne von Europa. Er redet zu dem Herzen mit dem Herzen und wird verstanden und applaudiert. Sein Kopf ist ein Gasthof, wo manchmal gute Gedanken einkehren, die sich aber dort nicht länger als über Nacht aufhalten; sehr oft steht er leer. Keiner hat wie Dumas ein Talent für das Dramatische. Das Theater ist sein wahrer Beruf. Er ist ein geborener Bühnendichter, und von Rechts wegen gehören ihm alle dramatischen Stoffe, er finde sie in der Natur oder in Schiller, Shakespeare und Calderon. Er entlockt ihnen neue Effekte, er schmilzt die alten Münzen um, damit sie wieder eine freudige Tagesgeltung gewinnen, und wir sollten ihm sogar danken für seine Diebstähle an der Vergangenheit, denn er bereichert damit die Gegenwart. Eine ungerechte Kritik, ein unter betrübsamen Umständen ans Licht getretener Aufsatz im »Journal des débats«, hat unserem armen Dichter bei der großen unwissenden Menge sehr stark geschadet, indem vielen Szenen seiner Stücke die frappantesten Parallelstellen in ausländischen Tragödien nachgewiesen wurden. Aber nichts ist törichter als dieser Vorwurf des Plagiats, es gibt in der Kunst kein sechstes Gebot, der Dichter darf überall zugreifen, wo er Material zu seinen Werken findet, und selbst ganze Säulen mit ausgemeißelten Kapitälern darf er sich zueignen, wenn nur der Tempel herrlich ist, den er damit stützt. Dieses hat Goethe sehr gut verstanden, und vor ihm sogar Shakespeare. Nichts ist törichter als das Begehrnis, ein Dichter solle alle seine Stoffe aus sich selber heraus schaffen; das sei Originalität. Ich erinnere mich einer Fabel, wo die Spinne mit der Biene spricht und ihr vorwirft, daß sie aus tausend Blumen das Material sammle, wovon sie ihren Wachsbau und den Honig darin bereite: »Ich aber«, setzt sie triumphierend hinzu, »ich ziehe mein ganzes Kunstgewebe in Originalfäden aus mir selber hervor.«
Wie ich eben erwähnte, der Aufsatz gegen Dumas im »Journal des débats« trat unter betrübsamen Umständen ans Licht; er war nämlich abgefaßt von einem jener jungen Séiden, die blindlings den Befehlen Victor Hugos gehorchen, und er ward gedruckt in einem Blatte, dessen Direktoren mit demselben aufs innigste befreundet sind. Hugo war großartig genug, die Mitwissenschaft an dem Erscheinen dieses Artikels nicht abzuleugnen, und er glaubte, seinem alten Freunde Dumas, wie es in literarischen Freundschaften üblich ist, zu rechter Zeit den zweckmäßigen Todesstoß versetzt zu haben. In der Tat, über Dumas’ Renommee hing seitdem ein schwarzer Trauerflor, und viele behaupteten, wenn man diesen Flor wegzöge, werde man gar nichts mehr dahinter erblicken. Aber seit der Aufführung eines Dramas wie
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