Sämtliche Werke
Parteigeistes nimmermehr erwehren, und der Dichter bildet dann schon von vornherein, ohne es zu wissen, eine modern-liberale Opposition gegen den alten König oder Ritter, den er feiern wollte. Dadurch entstehen Mißlaute, die einem Deutschen, der mit der Vergangenheit noch nicht tatsächlich gebrochen hat, und gar einem deutschen Dichter, der in der Unparteilichkeit Goethescher Künstlerweise auferzogen worden, aufs unangenehmste ins Gemüt stechen. Die letzten Töne der Marseillaise müssen verhallen, ehe Autor und Publikum in Frankreich sich an den Helden ihrer früheren Geschichte wieder gehörig erbauen können. Und wäre auch die Seele des Autors schon gereinigt von allen Schlacken des Hasses, so fände doch sein Wort kein unparteiisches Ohr im Parterre, wo die Männer sitzen, die nicht vergessen können, in welche blutigen Konflikte sie mit der Sippschaft jener Helden geraten, die auf der Bühne tragieren. Man kann den Anblick der Väter nicht sehr goutieren, wenn man den Söhnen auf dem Place de Gréve das Haupt abgeschlagen hat. So etwas trübt den reinen Theatergenuß. Nicht selten verkennt man die Unparteilichkeit des Dichters so weit, daß man ihn antirevolutionärer Gesinnungen beschuldigt. – »Was soll dieses Rittertum, dieser phantastische Plunder?« ruft dann der entrüstete Republikaner, und er schreit Anathema über den Dichter, der die Helden alter Zeit, zur Verführung des Volkes, zur Erweckung aristokratischer Sympathien, mit seinen Versen verherrlicht.
Hier, wie in vielen anderen Dingen, zeigt sich eine wahlverwandtschaftliche Ähnlichkeit zwischen den französischen Republikanern und den englischen Puritanern. Es knurret fast derselbe Ton in ihrer Theaterpolemik, nur daß diesen der religiöse, jenen der politische Fanatismus die absurdesten Argumente leiht. Unter den Aktenstücken aus der Cromwellschen Periode gibt es eine Streitschrift des berühmten Puritaners Prynne, betitelt »Histrio-Mastix« (gedr. 1633), woraus ich Ihnen folgende Diatribe gegen das Theater zur Ergötzung mitteile:
»There is scarce one Divell in Hell, hardly a notorious
sinne
or
sinner
upon earth, either of moderne or ancient times, but hath some part or other in Stage-playes… O that our Players, our Play-haunters would now seriously consider, that the persons whose parts, whose sinnes they act and see, are even
then yelling in the eternall flames of hell,
for these particular sinnes of theirs, even then whiles they are playing of these sinnes, these parts of theirs on the Stage! O that they would now remember the sighs, the groanes,
the tears, the anguish, weeping, and gnashing of teeth, the cryes, and shreekes,
that these wickednesses cause in Hell, whiles they are acting, applauding, committing and laughing at them in the Playhouse!«
Sechster Brief
Mein teurer, innig geliebter Freund! Mir ist, als trüge ich diesen Morgen einen Kranz von Mohnblumen auf dem Haupte, der all mein Sinnen und Denken einschläfert. Unwirsch rüttle ich manchmal den Kopf, und dann erwachen wohl darin hie und da einige Gedanken, aber gleich nicken sie wieder ein und schnarchen um die Wette. Die Witze, die Flöhe des Gehirns, die zwischen den schlummernden Gedanken umherspringen, zeigen sich ebenfalls nicht besonders munter und sind vielmehr sentimental und träge. Ist es die Frühlingsluft, die dergleichen Kopfbetäubungen verursacht, oder die veränderte Lebensart? Hier geh ich abends schon um neun Uhr zu Bette, ohne müde zu sein, genieße dann keinen gesunden Schlaf, der alle Glieder bindet, sondern wälze mich die ganze Nacht in einem traumsüchtigen Halbschlummer. In Paris hingegen, wo ich mich erst einige Stunden nach Mitternacht zur Ruhe begeben konnte, war mein Schlaf wie von Eisen. Kam ich doch erst um acht Uhr von Tische, und dann rollten wir ins Theater. Der Dr. Detmold aus Hannover, der den verflossenen Winter in Paris zubrachte und uns immer ins Theater begleitete, hielt uns munter, wenn die Stücke auch noch so einschläfernd. Wir haben viel zusammen gelacht und kritisiert und medisiert. Seien Sie ruhig, Liebster, Ihrer wurde nur mit der schönsten Anerkenntnis gedacht. Wir zollten Ihnen das freudigste Lob.
Sie wundern sich, daß ich so oft ins Theater gegangen; Sie wissen, der Besuch des Schauspielhauses gehört nicht eben zu meinen Gewohnheiten. Aus Kaprice enthielt ich mich diesen Winter des Salonlebens, und damit die Freunde, bei denen ich selten erschien, mich nicht im Theater sähen, wählte ich gewöhnlich eine
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