Sämtliche Werke
Nein, Herr Thiers ist ein Mann von großer Einsicht und Humanität, aber er ist auch Staatsmann, er bedarf nicht bloß der revolutionären Sympathien, er hat Helfer nötig von jeder Sorte, er muß transigieren, er braucht eine Majorität in der Pairskammer, er kann den Klerus als ein gouvernementales Mittel benützen, nämlich jenen Teil des Klerus, der, von der ältern bourbonischen Linie nichts mehr erwartend, sich der jetzigen Regierung angeschlossen hat. Zu diesem Teil des Klerus, welchen man den clergé rallié nennt, gehören sehr viele Ultramontanen, deren Organ ein Journal namens »Univers«; letztere erwarten das Heil der Kirche von Herrn Thiers, und dieser sucht wieder in jenen seine Stütze. Graf Montalembert, das rührigste Mitglied der frommen Gesellschaft und seit dem 1. März auch Séide des Herrn Thiers, ist der sichtbare Vermittler zwischen dem Sohn der Revolution und den Vätern des Glaubens, zwischen dem ehemaligen Redakteur des »National« und den jetzigen Redaktoren des »Univers«, die in ihren Kolonnen alles mögliche aufbieten, um der Welt glauben zu machen, die Juden fräßen alte Kapuziner und der Graf Ratti-Menton sei ein ehrlicher Mann. Graf RattiMenton, ein Freund, vielleicht nur ein Werkzeug der Freunde des Grafen Montalembert, war früher französischer Konsul in Sizilien, wo er zweimal bankerott machte und fortgeschafft ward. Später war er Konsul in Tiflis, wo er ebenfalls das Feld räumen mußte, und zwar wegen Dingen, die nicht sonderlich ehrender Art sind; nur soviel will ich bemerken, daß damals der russische Botschafter in Paris, Graf Pahlen, dem hiesigen Minister der auswärtigen Angelegenheiten, Grafen Molé, die bestimmte Anzeige machte: im Fall man den Herrn Ratti-Menton nicht von Tiflis abberufe, werde die kaiserlich russische Regierung denselben schimpflich zu entfernen wissen. Man hätte das Holz, wodurch man Flammen schüren will, nicht von so faulem Baume nehmen sollen!
VIII
Paris, 20. Mai 1840
Herr Thiers hat, durch die überzeugende Klarheit, womit er in der Kammer die trockensten und verworrensten Gegenstände abhandelte, wieder neue Lorbeern errungen. Die Bankverhältnisse wurden uns durch seine Rede ganz veranschaulicht sowie auch die algierschen Angelegenheiten und die Zuckerfrage. Der Mann versteht alles; es ist schade, daß er sich nicht auf deutsche Philosophie gelegt hat; er würde auch diese zu verdeutlichen wissen. Aber wer weiß! wenn die Ereignisse ihn antreiben und er sich auch mit Deutschland beschäftigen muß, wird er über Hegel und Schelling ebenso belehrend sprechen wie über Zuckerrohr und Runkelrübe.
Wichtiger aber für die Interessen Europas als die kommerziellen, finanziellen und Kolonialgegenstände, die in der Kammer zur Sprache kamen, ist die feierliche Rückkehr der irdischen Reste Napoleons. Diese Angelegenheit beschäftigt hier noch immer alle Geister, die höchsten wie die niedrigsten. Während unten im Volke alles jubelt, jauchzt, glüht und aufflammt, grübelt man oben, in den kältern Regionen der Gesellschaft, über die Gefahren, die jetzt von Sankt Helena aus täglich näher ziehen und Paris mit einer sehr bedenklichen Totenfeier bedrohen. Ja, könnte man schon den nächsten Morgen die Asche des Kaisers unter der Kuppel des Invalidenpalastes beisetzen, so dürfte man dem jetzigen Ministerium Kraft genug zutrauen, bei diesem Leichenbegängnisse jeden ungefügen Ausbruch der Leidenschaften zu verhüten. Aber wird es diese Kraft noch nach sechs Monaten besitzen, zur Zeit, wenn der triumphierende Sarg in die Seine hereinschwimmt? In Frankreich, dem rauschenden Lande der Bewegung, können sich binnen sechs Monaten die sonderbarsten Dinge ereignen: Thiers ist unterdessen vielleicht wieder Privatmann geworden (was wir sehr wünschten), oder er ist unterdessen als Minister sehr depopularisiert (was wir sehr befürchten), oder Frankreich ward unterdessen in einen Krieg verwickelt – und alsdann könnten aus der Asche Napoleons einige Funken hervorsprühen, ganz in der Nähe des Stuhls, der mit rotem Zunder bedeckt ist!
Schuf Herr Thiers jene Gefahr, um sich unentbehrlich zu machen, da man ihm auch die Kunst zutraut, alle selbstgeschaffenen Gefahren glücklich zu überwinden, oder sucht er im Bonapartismus eine glänzende Zuflucht für den Fall, daß er einmal mit dem Orleanismus ganz brechen müßte? Herr Thiers weiß sehr gut, daß, wenn er, in die Opposition zurücksinkend, den jetzigen Thron umstürzen hülfe, die Republikaner ans
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