Saemtliche Werke von Jean Paul
Ausmergelns nicht genug vermeidet. Die Klein-Wiener oder Flachsenfinger öffnen dem Genuß der Natur weniger ihr Herz als ihren Magenmund – Auen sind die Küchenstücke ihres Viehes, und Gärten die ihrer Besitzer – die Milchstraße fesselt und sättigt ihren Geist (ob sie gleich länger ist) nicht halb so sehr, als die Königsberger Bratwurst von 1583 es täte, welche fünfhundertundsechsundneunzig Ellen lang und viermal schwerer war als der Gelehrte selber, der sie der Nachwelt geschildert, Herr Wagenseil . – – Sind das Züge, auf welche die Fuhrleute den Namen Klein-Wien begründen? Ich war oft in Groß-Wien und kenne die Großkreuze, Kleinkreuze und Kommandeurs des Temperanzordens, der dort so gemein ist, persönlich: ich kann also allerdings einen gültigen Zeugen abgeben, und mir ist zu glauben, wenn ich – da man in Klein-Wien außerordentlich säuft – von Groß-Wien, und ausdrücklich von dessen Klosterleuten, ganz etwas anders verfechte; sie haben nicht nur immerfort den größten Durst – der doch weg sein müßte, wenn man ihn löschte –, sondern sie bedienen sich auch gegen die Trunkenheit eines schönen Mittels vom Plato. Dieser Alte gibt uns den Rat, in der Betrunkenheit in einen Spiegel zu schauen, um durch die zerrissene Gestalt, die uns darin an unsere Entehrung erinnert, auf immer davon abgemahnet zu sein. Daher stellen oft ganze Domkapitel, der Dechant, der Subsenior, die Domizellaren u. s. w., Gefäße mit Wein oder Bier vor sich hin und heben sie an die Augen und besehen in diesem (metamorphotischen oder) Zerrspiegel, der die entstellten Züge noch mehr entstellt (weil er wackelt), sich schon lange nach des Philosophen Rat. Ich frage aber, ob Leute, die beständig so tief ins Glas gucken, Trinken lieben können! –
Daraus folgt aber nicht, daß ich den Groß-Wienern die Ähnlichkeit mit den Flachsenfingern auch in solchen Zügen nehme, die ehren. So lass’ ich jene recht gern diesen z. B. darin ähnlich sein, daß sie an keiner Dichtkunst, keiner Schwärmerei und Empfindsamkeit – denn das ist alles einerlei – krank liegen. Viktor würde dieses Lob in seiner Sprache so etwa klingen lassen: »Die Wiener Autoren (selber die besten, nur Denis und kaum drei ausgenommen) geben dem Leser keine über die ganze Gegenwart tragende Flügel durch jenen Seelen-Adel, durch jene Verschmähung der Erde, durch jene Achtung für alte Tugend und Freiheit und höhere Liebe, worin andre deutsche Genien wie in heiligen Strahlen glänzen« , und er würde sich deshalb auf die »Wiener Skizzen«, auf »Faustin«, auf Blumauer und auf den »Wiener Musenalmanach« berufen. Den Tadel würde selber ein Wiener nützlichst annehmen und uns fragen, ob wir einen Musenalmanach (wie er) mit einem Zoten-Bodensatz aufzuweisen haben, worauf man setzen könnte: »Mit Approbation des Bordells.« – Dieses Gefühl des literarischen Unterschiedes nötigte sogar einen Nicolai – sonst kein besonderer Amoroso der Wiener Schriftsteller –, in seiner Allgemeinen deutschen Bibliothek eine eigne Seitenloge für diese einzubauen, ob er gleich sonst Schreiber aller andern Deutschkreise in ein Parterre zusammenwirft. Auf ähnliche Art sah ich in Baiern, daß an dem Galgen außer dem gewöhnlichen Balken für die drei christlichen Konfessionsverwandten noch ein besonderer schismatischer Querpfosten angebracht war, an welchen bloß die Judenschaft geheftet wurde.
Der Flachsenfinger weiß, daß an Poeten nichts ist, und springt in Büchern, wo Versebäche durch die Prose laufen, über die Bäche hinweg, wie gewisse Leute spät in die Kirche gehen, um dem Singen zu entweichen. Er ist ein treuer Diener des Staats, dem bekannt ist, wozu die poetische goldne Ader beim Revision-, Kommision-, Relation-, Enrollierungwesen zu gebrauchen ist: zu gar nichts; inzwischen will er doch, wenn er auch einen Klopstock und Goethe nicht schätzen kann, in müßigen Stunden einen guten Knüttelvers und Leberreim nicht verachten. Eine solche glücklich robuste Seelen-Natur, worin man weniger seinen Geist erhöhen will als seinen Pacht, macht es freilich begreiflich, wie es Schutzpocken geben kann, vermittelst deren der Flachsenfinger allein (wie Sokrates) in der Pest der Empfindsamkeit unangefochten herumwandelte. Der volle Mond machte bei ihnen volle Krebse, aber keine volle Herzen, und das, was sie darin pflanzten, damit er den Wachstum begünstigte, war nicht Liebe, sondern – Kohlrüben. Der echte Klein-Wiener zielt nach viel
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