Saemtliche Werke von Jean Paul
Darstellung hindurch. Hier gibt er ungeschminkt sein heiliges Ethos. Hier sagt er, wie er gelesen und verstanden werden will in seinen Dichtungen. Noch den »Titan« konnte man als Dichtung lesen, sich von ihm erschüttern und begeistern lassen, die »Levana« aber wendet sich geradeswegs an das Gewissen der Zeit ohne Umschweif und ohne Hülle. An den Toren seiner geistigen Entwickelung hatte Rousseau gestanden wie an den Toren der Zeit. Ein neues Naturevangelium war von dem großen Genfer ausgegangen. Aber der Sturm war ohne die tiefe Wirkung vorübergebraust. Wohl hatte eine Revolution seitdem die Welt in Erschütterung versetzt, aber die Wiedergeburt des Menschengeschlechtes, nach der Jean Paul seit den ersten Sturmzeichen der Zeit ausgeschaut hatte, war nicht erfolgt. Nur die alten Formen waren in Staub zerfallen, und gerade dieses Auseinanderfallen, das im Anfang wie der Beginn eines neuen Menschentums ausgesehen hatte, war der Beginn eines katastrophalen Niedergangs gewesen. Noch einmal mußte man bei Rousseau anfangen. Rousseaus »Emile« »zuerst und zuletzt«, sagt Jean Paul. Und dann Basedow, »der Verleger und Übersetzer Rousseaus in Deutschland«, und schließlich Pestalozzi, »der stärkende Rousseau des Volks«. Diese drei sind seine Eideshelfer. Levana, »die mütterliche Göttin, die den Vätern Väterherzen gibt«, schwebt über dem Buch.
Die Erhebung über den Zeitgeist ist als das oberste Ziel jeder Erziehung bereits hervorgehoben worden und damit Tendenz und Umfang der »Levana« umschrieben. Aber Jean Paul füllt diesen Rahmen nun mit einer bis in die kleinsten Kunstgriffe hinein durchgeführten Erziehungslehre. Nicht nur die idealen Ziele werden aufgestellt, sondern auch der Weg zu ihnen mit einer Sachkenntnis aufgezeigt, die Jean Paul in eine Reihe mit den größten Namen der Pädagogik stellt. Es springt förmlich in die Augen, daß jene kleinen hygienischen Maßregeln, zu denen sich heute nach Jahrzehnten genauer Messungen und psychologischer Beobachtungen die Kunst der Kinderpflegerinnen durchgefunden hat – z. B. Kinder ohne Kopfkissen liegen zu lassen – bereits alle in der »Levana« aufzufinden sind. Maßregeln der Ernährung und Körperpflege, die heute nur von den fortgeschrittensten Kinderärzten zum Entsetzen von Großmüttern vertreten werden, sind von Jean Paul bereits bei seinen eigenen Kindern, zum Teil sehr gegen den Willen Karolinens, angewandt worden, und mit einem Erfolg, der seinen Grundsätzen recht gegeben hat. Ja, Ideen, die heute erst auftauchen, wie die der »Zuchtwahl«, sind bereits von Jean Paul mit aller Wärme vertreten worden. Man lese nur, was er über die empörende Vernachlässigung der Zuchtwahl bei den Kulturvölkern schreibt. Wie er überhaupt die Erziehung der Kinder bei den Eltern beginnen läßt. Schon in Schwarzenbach war es sein erstes Bestreben gewesen, auf die Eltern seiner Zöglinge Einfluß zu gewinnen. Hier hält er den Eltern einen Spiegel vor, zeigt auf, welche teils verlogen idealen Erziehungsziele, teils egoistischen, ja niederträchtigen Bestrebungen bei der landesüblichen Erziehung durcheinanderquirlen.
Noch weit weniger als bei der »Vorschule« ist es bei der »Levana« möglich, den einzelnen Gedankengängen zu folgen. Große Partien haben wir bereits bei früheren Abschnitten von Jean Pauls Leben behandelt. Wir kennen die Bedeutung, die er dem Witz für die Erziehung beilegte, bereits von seiner Schwarzenbacher Winkelschule her, und aus der »Unsichtbaren Loge« seine Abneigung gegen das humanistische Gymnasium. In diesen großen Fragen fügt sich die »Levana« genau in den Rahmen von Jean Pauls uns bekanntem Kulturprogramm ein. Neu aber ist seine Art, uns in die Kinderseele hineinzuversetzen. Niemand könne wissen, schreibt er, ob er in seinem Kinde nicht einen künftigen Höllengott der Menschheit oder einen Schutz- und Lichtengel derselben vor sich habe, oder an welchen gefährlichen Stellen der Zukunft sich der Zauberer, der in ein kleines Kind verwandelt vor ihm spielt, sich aufrichte als Riese. Hier ist zum erstenmal die ungeheure Gewalt, die in der kommenden Generation zu unsern Füßen spielt, begriffen.
Zwei Reden stehen am Anfang des Werks, die eine, daß die Erziehung überflüssig, eine Gegenrede, daß sie wichtig ist. Beide Standpunkte heben sich nicht gegenseitig auf, sondern kommen zu dem Begriff einer richtigen Erziehung. Worin kann man erziehen? In welchen Fragen muß man sich bescheiden? Die Individualität des
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