Saemtliche Werke von Jean Paul
festgelegt. Eine Erziehungslehre, oder wie er jetzt als Anhänger des Sprachreformers Wolke schrieb: eine »Erziehlehre« sollte jetzt die eine große Seite der vierseitigen Pyramide werden, die sein Gesamtwerk darstellt. Wir sprachen schon davon, wie die vier Hauptwerke dieser Hauptperiode seines Schaffens, zwei Romane und zwei theoretische Werke, sich gegenseitig stützen. Ein ungeheurer Ideenkomplex ward hier viermal in der Betrachtung und in der Gestaltung durchmessen. Wenn wir den obersten Leitpunkt aller vier Werke nennen wollen, so war es die Abkehr von der Zeit, dieser kantisch-goethisch-schillerisch-romantisch gestimmten Zeit, der noch einmal, wenn auch schon zu spät, ein aus einer Wurzel organisch erwachsenes, umfassendes Menschentum entgegengesetzt wurde. Im »Titan« wie in der »Vorschule der Ästhetik« fanden wir die Gestalten wie die Gedankengänge deutlich um diesen obersten Gesichtspunkt geordnet. Aber auch in dem Erziehungswerk Jean Pauls, in seiner »Levana«, wird es deutlich ausgesprochen. Als Ziel jeder Erziehung wird »die Erhebung über den Zeitgeist« genannt. »Es ist der Geist der Ewigkeit, der jeden Geist der Zeit richtet und überschauet. Und was sagt er über die jetzige? Sehr harte Worte… Etwas, sagt er, müsse in unserer Zeit untergegangen sein, weil sogar das gewaltige Erdbeben der Revolution, vor welchem jahrhundertelang – wie bei physischen Erdbeben – unendlich viel Gewürm aus der Erde kroch und sie bedeckte, nichts Großes hervorbrachte und nachließ, als am gedachten Gewürme schöne Flügel. Der Geist der Ewigkeit, der das Herz und die Welt richtet, spricht strenge aus, welcher Geist den jetzigen Begeisterten der Sinne und den Feueranbetern der Leidenschaften fehle, der heilige des Überirdischen… Der Sinn und Glaube für das Außerweltliche, der sonst unter den schmutzigsten Zeiten seine Wurzeln forttrieb, gewinnt in reiner Luft keine Früchte. Wenn sonst Religion im Kriege war, so ist jetzt nicht einmal in der Religion mehr Krieg – – aus der Welt wurde uns ein Weltgebäude, aus dem Äther ein Gas, aus Gott eine Kraft, aus der zweiten Welt ein Sarg. Endlich hält noch der Geist der Ewigkeit uns unsere Schamlosigkeit vor, womit wir die leidenschaftliche Brunst des Zorn, des Liebe und des Gierfeuers, deren sich alle Religionen und die alten Völker und die großen Menschen enthielten und schämten, als ein Ehrenfeuerwerk in unserm Dunkel spielen lassen; und sagt, daß wir, nur in Haß und Hunger noch lebendig, wie andere zerfallende Leichen, eben nur die Zähne unverweslich behalten, die Werkzeuge beides, der Rache und des Genusses.«
Ein ungeheueres Bild der Gegenwart, das hier gegen den Geist der Ewigkeit gehalten wird. Eine Kritik, so unerbittlich, so schonungslos, so in den innersten Kern treffend, daß wir auffahren. Ein Bild unserer eigenen Zeit glauben wir vor uns aufgerollt, und fragen nur erstaunt: ob das Furchtbare schon damals Geltung hatte wie in unsern Tagen. Und doch! Mochte vieles noch unter der Maske verborgen geblieben sein, damals legten sich ja die Fundamente zu unserer abstoßenden Gegenwart, und Jean Paul erkannte bereits durch die dünnen Erdschichten diese Fundamente hindurch, die damals sich erst undeutlich unter der Oberfläche abzeichneten. Noch war es ein leidenschaftliches Titanentum mit dem ganzen verführerischen Glanz eines solchen, das den Zeitgeist verkörperte. Aber »Leidenschaftlichkeit gehört eben recht zum Siechtum der Zeit, nirgend wohnt so viel Aufbrausung, Nachlaß, Weichheit gegen sich, und unerbittliche Selbstsucht gegen andere, als auf dem Krankenbette. – Auf diesem liegt aber das Jahrhundert.«
Ein eigentümliches Erziehungsbuch, das nicht nur Knaben und Mädchen, das in den jungen Menschen das ganze Jahrhundert erziehen will. Nicht ein leichtfaßliches Vademecum für Lehrer und Hauslehrer, ein Welt- und Zeitkompendium vielmehr, »weswegen dieses in der Form als mein ernsthaftestes angesehen werden mag«, schreibt Jean Paul von diesem Buch. Sein »ernsthaftestes« Buch. Ein Dichter, der zu den großen der Weltliteratur gehört, hält ein Erziehungsbuch für sein ernsthaftestes Werk. Und wer es liest, dem drängt sich sehr bald die Überzeugung auf, daß es nicht eine Schrulle ist, die ihn dieses Buch so ernst nehmen läßt. Noch in seinen Dichtungen handelt es sich um die Welt des schönen Scheins. Hier aber bricht der Sitten- und Gesetzesprediger durch jenen Schein, auch noch durch den der künstlerischen
Weitere Kostenlose Bücher