Saemtliche Werke von Jean Paul
Schrift gedacht. Nicht nur im großen wollte Jean Paul mit der »Levana« den Geist des deutschen Hauses beeinflussen, sondern den Eltern auch eine Reihe von bewährten Regeln geben, die ihnen in jedem konkreten Fall zu Diensten standen. Das zweite Bändchen wird mit einem Feldzug gegen die Ammenarroganz eröffnet. Wir wissen es meistens heute nicht mehr aus Erfahrung, welch despotisches Regiment die Ammen in den meisten Häusern ausübten, indem sie in Hinblick auf ihre Milch die unerhörtesten Ansprüche stellten. Demgegenüber betont Jean Paul, daß durch Milch nichts Geistiges übertragen würde, ja, er schlägt sogar Bresche in die Anschauung, als ob ein Kind durchaus der Brusternährung bedürfe. Sein eigenes kräftigstes Kind wäre fast durchweg mit der Flasche ernährt worden. Im übrigen empfiehlt er sogar baldigen Übergang zur gemischten Kost. Wichtig ist, daß er das nächtliche Einsingen der Kinder verpönt. Wie es erst seit einigen Jahren üblich geworden, empfiehlt er, die Kinder zur Nachtzeit nicht aufzunehmen. Sie würden bald durchschlafen, und die Kräfte der Mutter würden geschont bleiben.
Man muß es jedem einzelnen überlassen, wieviel er von diesen Erziehungsgrundsätzen für sich selbst aufnehmen will. Jedenfalls ist es erstaunlich, wie Jean Paul sich bereits mit den modernsten Methoden der Kindererziehung berührt. Zwei weitere Bruchstücke beschäftigen sich mit der »weiblichen Erziehung« und der »sittlichen Bildung der Knaben«. Auch hier gibt es fast auf jeder Seite neue und wirksame Kunstgriffe der Einwirkung auf die heranwachsende Jugend und psychologische Blicke von seltener Tiefe. Zwei Bruchstücke »Entwicklung des geistigen Bildungstriebes« und »Ausbildung des Schönheitssinnes« schließen das Werk ab. Ein letztes Bruchstück zeigt uns noch einmal die rührenden Gestalten der Kinder, deren häufiger Anblick uns wesenslose Menschen leider allzusehr gegen das Wunder ihrer Erscheinung abgestumpft hat. »Ein erstes Kind auf der Erde würde uns als ein wunderbarer ausländischer Engel erscheinen, der, ungewohnt unserer fremden Sprache, Miene und Luft, uns sprachlos und scharf, aber himmlischrein anblickte wie ein Raphaelisches Jesuskind.« »So werden uns täglich aus der stummen unbekannten Welt diese reinen Wesen auf die wilde Erde geschickt, und sie landen bald auf Sklavenküsten, Schlachtfeldern, in Gefängnissen zur Hinrichtung, bald in Blütentälern und auf reinen Alpenhöhen an, bald im giftigsten, bald im heiligsten Jahrhundert; und suchen nach dem Verlust des einzigen Vaters den adoptierenden hier unten.« Diese reine Anschauung des Kindes durchklingt das ganze Buch.
Damit haben wir aber lange nicht alle Gedanken aufgezählt, die die »Levana« enthält. Was alles in den Bereich der Erziehung fällt, wird hier von einem Dichtergenius erörtert in einer hohen, leidenschaftlichen Sprache. Gleich im Anfang taucht das Problem auf, daß das deutsche Volk, das eigentlich erziehende, so ungeheuer viel über Erziehung schreibe und so ungeheuer wenig zu einer Reform der Erziehung beitrage. Im Verhältnis zum Altertum sei die Erziehung geradezu vernachlässigt worden. Der Staat bekümmere sich absolut nicht mehr in irgendeinem schöpferischen Sinne um Erziehungsfragen, ja, er könne es im Grunde gar nicht, da er selbst aufgehört habe, eine von Idealen erfüllte Volksgemeinschaft zu sein. In solchen Sätzen spiegelt sich der Tiefstand staatlichen Lebens in Deutschland vor der Schlacht bei Jena wider. Wäre die »Levana« einige Jahre später, unter dem Eindruck der preußischen Reformen, geschrieben worden, so wäre wohl ein Kapitel über Staatserziehung hinzugetreten. Aber auch hier hätte Jean Paul jenen fundamentalen Satz aufrechterhalten: »Gleichwohl ist der Mensch früher als der Bürger«, und kein Staatsideal hätte ihn davon abgehalten, entsprechend seinen Humanitätsidealen, dem Menschlichen vor dem Primat des Staates die erste Stelle zu geben. Nicht den Staat als Erzieher hätte er in den Vordergrund gerückt, sondern er hätte, dem ersten Anlauf der preußischen Reformer gemäß, den Staat aus einem frei entwickelten Menschentum heraus entstehen lassen. Erst die kommenden Jahre sollten Jean Paul das Staatserlebnis bringen. Es fand in der »Levana« keine Stelle mehr.
Gegen den Schluß des Buches kommt Jean Paul noch einmal auf die Notlage der Lehrer im damaligen Deutschland zu sprechen. England gibt einem Subrektor ein Gehalt von sechstausend Talern, während in
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